Es ist Anfang September 2014 und die dritte Etappe des Jakobsweges von Frankfurt nach Bernau steht an.
Es geht mit Zug und Bus nach Müncheberg und dann zu Fuß nach Heinersdorf, wo vor ein paar Tagen die zweite Etappe endete. Der Weg führt teilweise über die zum Fuß-/Radweg ausgebaute Trasse der ehemaligen Oderbruchbahn.
Hinter dem Abzweig nach Elisenhof trennt sich der Jakobsweg von der Bahntrasse, die nach rechts schwenkt.
Mit nur einem kleinen Knick führt der Weg geradeaus nach Behlendorf, einem Ortsteil von Heinersdorf, und weiter bis zum Heinersdorfer See. An dessen Ufer geht es nach Süden und dann auf festem Weg durch sumpfiges Gelände zwischen den Seen nach Heinersdorf.
Vom Ort ist zuerst die Kirche mit der eigenwilligen Turmhaube zu sehen, die wir unlängst besucht und beschrieben haben. Auf den letzten Metern wird man lautstark von einer ganzen Gruppe Enten begrüßt. Noch können die sorgenls schnattern, denn bis Weihnachten ist es über ein viertel Jahr hin.
Die heutige Etappe ist nicht sehr lang, da ist genug Zeit, sich noch etwas in Heinersdorf umzusehen, vor allem im Schloss, das wir letztens unbeachtet gelassen haben.
An der Hauptstraße angekommen, führt der Weg deshalb nach links, vorbei an der Feuerwehr, die in einem Wirtschafts­gebäude des ehemaligen Gutes untergebracht ist. Ohne Fenster zur Straße, das schützt vor Denunzianten!
Ein altes Spritzenhaus mit Schlauchturm steht schräg gegenüber neben einer Reihe von Garagen.
Schon steht man vor dem Heinersdorfer Herrenhaus, das auch als Gutshaus oder Schloss bezeichnet wird. Es ist ein zweigeschossiger, symmetrischer Bau, dessen Ursprung im Anfang des 17. Jahrhunderts liegt.
1886 erfolgten Um- und Ausbauten durch den damaligen Rittergutsbesitzer Günther Schulz von Heinersdorf.
Die Fassade macht ringsum, auch auf dem Innenhof des U-förmigen Gebäudes, einen recht ordentlichen Eindruck. Verputzen und Streichen können nicht allzu lange zurückliegen. Nur der Portikus samt Eingangstür sieht noch etwas trostlos aus.
Die Baustellentafel am Haus verrät, dass hier „Sicherungs- und Erhaltungsmaßnahmen“ stattfinden, die von verschiedenen Stellen gefördert werden. Leider gibt es keine Details.

Die Vordertür ist zwar verschlossen, aber da die Tür auf der Rückseite offen steht, muss man sich nicht als Einbrecher fühlen, wenn man einen Blick ins Haus wirft. Man wird ja wohl mal schauen dürfen, wo und wie unsere Steuergelder verbaut werden.
Dass hier ein paar Euro nicht ausreichen werden, wird einem schon im Erdgeschoss klar. Das sieht noch so aus, wie es die letzten Nutzer und nachfolgende Besucher hinterlassen haben. Kaputte Böden, provisorisch zugemauerte Öffnungen, grauenhafte Tapeten usw.
In dem großen Raum, in den man von hinten kommend zunächst tritt, steht ein Monstrum, das man für einen überdimensionierten Beichtstuhl halten könnte. Die Anordnung von Fenstern und Türen legt die Vermutung nahe, dass es sich um eine Pförtnerloge mit integriertem Besenschrank handelt.
Ein an die Wand gelehntes Schild verrät, dass sich in diesem Haus das Landambulatorium Heinersdorf nebst Kinderheim und Tageskrippe befand. An der vermeintlichen Pförtnerloge findet sich zudem eine Stecktafel, deren inzwischen etwas durcheinander gekommene Überschrift mal „Sprechstunden“ lautete.
In diesem Kasten saß also offenbar mal der Pförtner, der die Kranken zum richtigen Sprechzimmer lenkte und zugleich die hier untergebrachten Kinder am Ausbüchsen hinderte.
Und da man Patienten und Kindern oft hinterherkehren muss, waren vielleicht wirklich die Besen und Wischeimer hinter den drei Türen an der Seite des Kastens untergebracht.
Nach diesem ersten Schock ist man schon mal sehr erfreut, wenn man in das Treppenhaus tritt, in welches man durch das Hauptportal gekommen wäre. Es fehlt zwar Putz an den Wänden, aber die halbhohen hölzernen Wandverkleidungen scheinen noch intakt zu sein. Hier muss man „nur“ irgendwie die Alcydharzfarbe von VEB Lacufa runter kriegen.
Die geschwungene Holztreppe macht einen brauchbaren Eindruck und ist auch noch nicht ausgetreten. Ein echter Hammer ist jedoch die Stuckdecke des Treppenhauses, die frisch restauriert ist und in strahlendem Weiß daherkommt. Und solche Decken werden wir in diesem Haus noch einige zu sehen bekommen. Der wertvolle Stuck aus der Barockzeit ist angeblich italienischer Herkunft und soll mit dem im Schloss Köpenick vergleichbar sein.
Ganz offensichtlich hat man sich nach der Sicherung der Bausubstanz und der Neudeckung des Daches zunächst daran gemacht, die Stuckdecken im zweiten Stock zu sichern und zu restaurieren. Damit ist man schon ziemlich weit gekommen.
Das Obergeschoss bietet damit zwar heruntergekommene Räume mit Um- und Ausbauten aus DDR-Zeiten, aber fantastischen Decken. Wenn Wände und Böden ähnlich gut restauriert werden, wird das Haus ein echtes Schmuckstück werden. Über die spätere Nutzung ist nichts bekannt, momentan finden dort wiederholt Ausstellungen statt.
Das Ofenrohr im Ehrenkranz ist natürlich der Hammer unter allen Details im Haus, dagegen ist der Wandschrank im historischen Türrahmen gar nichts.
Aber die testweise Entfernung von Farbe an Wanddekors und Holzverkleidungen lässt hoffen, dass sich die Untaten der Vergangenheit beseitigen lassen.
Vom Herrenhaus geht es entweder die Hauptstraße runter bis zur B5 und dort nach rechts, oder (wie als Jakobsweg ausgewiesen) durch die Straße an der Brennerei, zwischen den Seen hindurch und dann die Müncheberger Straße hinunter bis zur B5 und dort nach links.
In beiden Fällen muss man in die L36 einbiegen und nach 100 Metern rechts den als Jakobsweg ausgeschilderten Wanderweg nach Tempelberg nehmen.
Der Weg ist teilweise mit Feldsteinen gepflastert und über weite Strecken mit Schatten spendenden Bäumen bestanden.
Da kommt man gut voran. Wenn man einen Blick auf die Karte wird, kommen einem allerdings Zweifel, ob die aus Frankfurt kommenden Jakobspilger damals wirklich den Umweg über Tempelberg gegangen sind.
Aber irgendwelche frommen Leute, vielleicht auch Ritter, waren im Mittelalter mit Sicherheit hier unterwegs.
Tempelberg, 1244 erstmals erwähnt, wurde vermutlich von den Tempelrittern der Komturei Lietzen gegründet. Lietzen liegt knapp 15 km entfernt südlich von Seelow und der Weg, den wir laufen, ist die kürzeste Verbindung beider Orte.
Wenn man so in Gedanken versunken vor sich hinläuft, ist man verwundert, wenn plötzlich zwischen den Bäumen eine Mühle auftaucht, die noch dazu einen äußerlich sehr intakten Eindruck macht. Wie es innen aussieht, ist nicht bekannt.
Es ist eine Holländermühle, also eine, bei der nicht die ganze Mühle, sondern nur die Kuppe mit dem Windrad drehbar ist.
Die Mühle ist in Privatbesitz. Man kann hier aber „Wellness an der Mühle“ buchen und vielleicht unter dem Vorwand müder Glieder einen Blick auf das Gelände werfen.
Von hier ist es nicht mehr weit bis nach Tempelberg.
Am Ortseingang trifft man auf ein Gehöft, in dem man eine Ferienwohnungen mieten, aber auch Kunstwerke aus Filz bestaunen und kaufen kann. Ein großes Banner am Gartenzaun wirbt für die Filzmanufaktur und ihren Hofladen.
Links ist der erste Dorfteich zu sehen und ein Stück weiter führt ein Türchen auf den Kirchhof.
Die Tempelberger Kirche stammt aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts. 1745 wurden die Fenster umgebaut und ein quadratischer Turmaufsatz errichtet. Dabei wurde auch im Süden eine Sakristei und darüber die Patronatsloge angebaut. Beides ist mit Fenstern und einer Tür versehen, so dass man denkt, vor einem Wohnhaus zu stehen.
Die Tür mit dem Schild „Offene Kirche“ ist aber leider vergittert und verschlossen.
Eine Info-Tafel zu den „Spuren der Romanik“ erzählt, dass „Heinrich der Bärtige“ (Herzog Heinrich I.) Anfang des 13. Jahrhunderts die Tempelritter ins Land geholt hat, um die Besiedlung voranzutreiben. Diese gründeten die Komturei Lietzen und den Ort Tempelberg.
Nach dem Verbot des Tempelritterordens ging das Dorf in den Besitz des Johanniterordens über. Neben einer vermauerten Priesterpforte findet man auf der Südseite als Zeichen der Templer ein in den Feldstein gemeißeltes Jerusalemer Kreuz: Ein großes, allseits symmetrisches Kreuz mit vier kleinen Kreuzen in den Quadranten. Das war das Wappen des Königreiches Jerusalem und verweist darauf, dass die Templer aus dem Heiligen Land stammen.
Im Schaukasten nebenan findet sich ein Hinweis, wo man den Kirchenschlüssel bekommen kann. Nichts wie hin.
Lindenstraße 39. Das ist hinter dem Teich.
Aber Achtung, hier gibt es nicht nur einen Teich, sondern gleich drei, die den Kirchhof umrahmen.
Ein netter alter Herr wartet schon mit dem Schlüssel am Gartentor. Er hat gesehen, dass da jemand neugierig um die Kirche schleicht und fest damit gerechnet, dass der nach dem Schlüssel fragen wird. Der Herr kommt freundlicherweise gleich mit und macht eine Kirchenführung.
Bei der Kirche handelt es sich um eine sogenannte „vollständige Anlage“, denn sie verfügt über Westquerturm, Langschiff, eingezogenen Chor und halbrunde Apsis.
Eine Besonderheit im Innern ist die große, verglaste Patronatsloge, die aus dem Obergeschoss des Sakristei-Anbaus den Blick in die Kirche freigibt. Auffällig sind außerdem die Johanniterkreuze (auch als Malteser­kreuze bekannt), die auf die früheren Besitzer der Kirche verweisen.
In der Apsis findet man zweimal zwei und im Chor drei weitere Epitaphe aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Letztere schauen wir uns mal genauer an.
Anno 1648, den 24. Decbr. ist auf diese Weldt gebohren die wohl­gebohrne Frau Anna Lucretie von Göltzen, ist verheirathet Anno 1679
Alhier ruhen in Gott die Gebeine der hochwohlgebornen Frau, Fraulein Elisbet Sophien von W. Wittin des weyland hoch-wohlgebornen Herrn Georg Rudolph von Wulffen, gewesener königl. Schwedischer Kammerherr, auch Preuss. Landrath des Lebuschen Creises ...
Dis Grabmal verwaret die werten Gebeine der weiland hochwohlgeb. Frau Fr. Charlotta Hedewig von Wulffen geborne von Waldow ...
An der Wand hängen auch zwei Wandbilder, die an Gefallene des Krieges 1870/71 erinnern:
Wilhelm Paul,
Kanonier bei der 12. Comp. des
Brand. Festungs-Artillerie Reg. Nr.3,
geb. d. 3. August 1836,
gest. d. 23. Januar 1871
in Mainz.
Zum Heilgen Kampfe zogst Du aus. Um frohe Rückkehr baten heiß die Deinen. Doch Du kamst nicht zurück ins Vaterhaus. Verlassen stehn wir nun - und weinen.
Reinhold Gleichfeld,
Gefreiter bei der 1. Comp.
3ten Brand. Infant. Reg. Nr. 20,
geb. d. 17. Juli 1815,
gest. d. 4. Decb. 1870
in Nieheim in Westphalen.
Bei der freundlichen Kirchenführung ist kein Fleck aus­gelassen und sogar das alte Harmonium gezeigt worden.
Die Patronatsloge wird als Winterkirche, Gruppen- und Unterrichtsraum benutzt. Und wenn die Kirche mal voll sein sollte, dann kann man da die überzähligen Leute platzieren und bei geöffneten Fenstern teilhaben lassen.
Den Aufstieg zum Turm darf man sich nicht nehmen lassen, wenn man die Gelegenheit geboten bekommt.
Die Tempelberger Kirche gehört zu den wenigen im Land, die noch drei Glocken besitzen. Hier sind es zwei mittelalterliche Glocken und eine 1598 gegossene. Der Ort ist offenbar von der Glockenabgabe in den Weltkriegen verschont geblieben.
Weiter geht es gen Norden auf der Müncheberger Straße. Kurz vor dem Ortsausgang kommt man am Kohlhaasweg vorbei. Dieser erinnert an Hans Kohlhase, der hier um 1500 geboren wurde und Heinrich von Kleist als Vorlage für seine Novelle „Michael Kohlhaas“ diente. Kaum zu glauben, dass diesem friedlichen Ort ein dickschädeliger Rebell entstammt.
Beim Blick zurück fällt noch mal die Holländermühle ins Auge, aus dieser Perspektive gepaart mit einer modernen Variante.
Schnell ist man an den Ruinen der LPG vorbei. Der Straßenname wechselt in „Tempelhofer Weg“, die Umgebung bleibt unverändert: leicht welliges Land mit Feldern und Wiesen, teilweise wie Schweizer Käse von Söllen durchsetzt.
Obwohl es sich um eine „richtige“ Straße mit brauchbarem Belag handelt, ist hier kaum was los.
Weiter geradeaus käme man direkt nach Müncheberg, aber der Jakobsweg biegt links, dann wieder rechts ab.
Die Gehöfte des Wohnplatzes „Müncheberger Loose“ sind deshalb nur aus der Ferne zu sehen.
Installateure und Fahrrad­monteure können hier mit den Fundstücken auf dem Weg ihre Lager auffüllen.
Der Weg führt nur ein kurzes Stück durch ein Wäldchen, ansonsten ist man unter freiem Himmel unterwegs.
Einen Kilometer weiter ist man in Philippinenhof, einer kleinen Siedlung, die offenbar jeder Pilger besuchen soll.
Tatsächlich trifft man dort auf die Jakobsmuschel und ein Quartier mit einem Kreuz über der Tür, offenbar eine Pilgerherberge. Aber für heute ist kein Dach überm Kopf gesucht, sondern eher was für die Kehle und den Gaumen.
Mit einer Verpflegungsmöglichkeit sieht es aber hier wie überhaupt am ganzen Weg sehr dürftig aus. Aber für heute ist das Ziel ja fast erreicht.
Wie in Falkenhagen, so gibt es auch hier ein „Ah-Erlebnis“. Kaum ist man auf der finalen Wegstrecke nach Müncheberg, taucht über dem Horizont eine Kirchturmspitze auf: die Müncheberger Stadtpfarrkirche. Das ist für heute das Etappenziel, aber bis dort ist es noch ein Stück zu laufen.
Zunächst geht noch über die für Freitag nachmittag unwirklich leere B1/B5, die hier auf einer Umgehungsstraße einen weiten Bogen um Müncheberg macht. Eigentlich läuft hier nahezu jeglicher Verkehr zwischen Berlin und Küstrin (B1) und Frankfurt (B5) einschließlich der Schnaps-, Benzin- und Zigaretten-Touristen durch, aber heute ist keiner unterwegs.
Auf einem von Beeren tragenden Bäumen und Sträuchern kommt man der Stadt immer näher und wird der Turm der Pfarrkirche scheinbar immer höher. Da die Kirche auf einem Hügel steht, überragt ihr Turm sämtliche Häuser.
Die Kirche wurde schon am Morgen besucht, bevor es nach Heinersdorf ging. Ihr wird noch ein eigenes Kapitel gewidmet.
Heute geht es nur noch einmal quer durch die Stadt und vorbei am Berliner Tor im Nordwesten, wo der Turmwächter scheinbar zum Abschied winkt.
Mit dem Bus geht es zum etwas auswärts liegenden Bahnhof Müncheberg (Mark) und von dort mit dem Zug nach Berlin-Lichtenberg und mit der S-Bahn nach Hause.
Es war wieder ein erlebnisreicher Tag, der besonders durch die geheime Besichtigung des Heinersdorfer Herrenhauses und die Führung in der Tempelberger Kirche geprägt war.