Es ist Ende September 2021 und ich will mich auf den Jakobsweg entlang der Via Imperii von Stettin nach Berlin begeben.
Dabei ist vieles für mich neu: es ist die erste Mehrtagestour, ich laufe erstmals mit einem größeren Rucksack auf dem Rücken und mit einem neuen Smartphone statt Fotoapparat in der Tasche. Ich bin seit langem das erste Mal wieder in Polen und habe natürlich keine Złoty dabei. Aber das sind alles Herausforderungen, die zu meistern sein sollten.
Mit der RB66 geht es von Bernau nach Stettin.
Dafür zahlt man nur 11,60 € (von Berlin aus 12,70 €), die Tickets in die grenznahen polnischen Städte sind subventioniert und beinhalten dort auch den ÖPNV.
Die Fahrt war insofern aufregend, als kurz hinter der Grenze zwei solcher Wagen, in denen ich gerade sitze, übereinander am Bahndamm liegend im Blickfeld erscheinen. Enden die Reisen ins Nachbarland immer so? Ich bin so perplex, dass ich das Smartphone nicht schnell genug aus der Tasche bekomme, um ein Bild davon zu machen.
Wie ich später im Internet erfahre, war zwei Monate zuvor am nahen Bahnübergang eine Regionalbahn mit einem LKW kollidiert. Warum man aber die entgleisten Wagen den Bahndamm hinuntergekippt hat, statt sie abzutransportieren, war nicht zu lesen, nur dass in nächster Zeit mit Einschränkungen zu rechnen ist, weil nunmehr Wagen fehlen.
In Stettin angekommen, gehe ich auf direktem Weg ins Stadtzentrum. So richtig vorbereitet bin ich nicht, weder Stadtplan noch Reiseführer habe ich im Gepäck. Und so bin ich überrascht und sehr erfreut, dass es sich bei der riesigen Kirche, die ich zuerst ansteuere, um die St. Jakobi-Kirche handelt. Das ist der perfekte Einstieg in die Pilgertour.
Schon von weitem fällt auf, dass die hoch aufragende Turmspitze teilweise verglast ist. Warum, erfahre ich später.
Das Kircheninnere beeindruckt nicht nur durch seine Größe, sondern auch durch den tadellosen Zustand und die vielen interessanten Details, die es dort zu entdecken gibt.
Eine der Seitenkapellen ist Pater Maximilian Kolbe gewidmet, der sich im KZ für einen Familienvater geopfert hat, eine andere der Gewerkschaft Solidarnosc, die in den 1980er Jahren den Boden für die friedliche Revolution in ganz Osteuropa geebnet hat. Und mittendrin steht der hl. Jakobus.
Die 110 Meter aufragende Spitze hat der Kirchturm erst seit 2009. Seit 1945 hatte der Turm nur eine kleine Haube, da die frühere Turmspitze einem Bombentreffer zum Opfer fiel.
In die neue Turmspitze ist eine verglaste Aussichtsplattform integriert worden, die man mit dem Fahrstuhl erreicht. Von dort hat man einen großartigen Rundblick auf die Stadt.
Wieder auf dem Boden angekommen, schaue ich mich erstmal um, ob hier nicht irgendwo ein Pilgerstempel zu bekommen ist. Da durchzuckt es mich, dass ich meinen Pilgerpass gar nicht dabei habe.
Aber da fällt mein Blick auf das Pfarrbüro neben der Kirche und tatsächlich kann man dort für 10 Złoty einen Pilgerpass bekommen, jedoch ohne Stempel - den muss man sich an der Kasse für den Fahrstuhl holen. Also nochmal zurück.
Mit fast allem ausgestattet, was einen richtigen Pilger ausmacht, schleiche ich nun noch ein weiteres Mal um die gewaltige Kirche herum.
Ich bin noch dabei mich zu wundern, warum hier keine Jakobsmuscheln oder ähnliches zu sehen sind, da entdecke ich am Boden einen Kanaldeckel, dessen Inschrift evtl. etwas mit Pilgern zu tun hat, denn da taucht das Wort „Pielgrzymka“ auf, was ja so ähnlich klingt wie „Pilgrim“:
IX. Ogólnopolska Pielgrzymka Pracowników Wodociągów, Kanalizacji i Ochrony Środowiska
Jasna Góra 9-10 X 1999
Zakład Wodociągów i Kanalizacji
Und tatsächlich bestätigt das Übersetzungsprogramm meine Vermutung: Die Inschrift erinnert an eine Wallfahrt der Kanalarbeiter nach Częstochowa:
IX. Landesweite Wallfahrt von Wasserversorgungs-, Abwasser-, Kommunal- und Umweltschutzarbeitern
Jasna Góra (Klarenberg in Tschenstochau), 9. bis 10.10.1999
Abteilung Wasser und Abwasser
Ein Stück weiter findet sich sogar ein Kanaldeckel mit einem Bibelspruch aus dem Brief des Paulus an die Korinther, Kapitel 13 (kurz „Korinther 13“), dem „Hohelied der Liebe“:
Liebe ist geduldig und freundlich. Sie ist nicht verbissen, sie prahlt nicht und schaut nicht auf andere herab. Liebe verletzt nicht den Anstand und sucht nicht den eigenen Vorteil, sie lässt sich nicht reizen und ist nicht nachtragend. Sie freut sich nicht am Unrecht, sondern freut sich, wenn die Wahrheit siegt. Liebe nimmt alles auf sich, sie verliert nie den Glauben oder die Hoffnung und hält durch bis zum Ende.
Die Liebe wird niemals vergehen.
Nach dem Kirchenbesuch führt mich mein Weg in das frühere „Pommernschloss“, das mit seiner schneeweißen Fassade und den auffälligen Giebeln sofort ins Auge sticht.
Hier im Schloss der Herzöge von Pommern aus dem 16. Jh. gäbe es eine Menge zu sehen, aber ich begnüge mich mit den alten Stadtplänen und Stadtansichten im Innenhof.
Überhaupt gibt es in der Stadt so viel zu sehen, dass ein halber Tag längst nicht ausreicht, alle Sehenswürdigkeiten zu besuchen, geschweige denn die darin befindlichen Museen, Ausstellungen usw. Und hier ist auch nicht der richtige Ort, all das zu beschreiben.
Eine Sehenswürdigkeit sei noch erwähnt: die Petrikirche, vom Schloss durch eine Parkanlage und eine Straße getrennt.
Sie wurde 1124 als erste christliche Kirche in Pommern gegründet und im 15./16. Jahrhundert im spätgotischen Stil erneuert. Wie die meisten Stettiner Kirchen war sie lange Zeit evangelisch und erst nach dem Krieg wieder katholisch.
Gar nicht weit weg von der historischen Altstadt ist man plötzlich mitten im Einkaufsviertel mit hohen Bürogebäuden, großen Kaufhäusern und Geschäften.
Und mittendrin wird fleißig gebaut. Wie es aussieht, werden die neuen Straßenbahngleise so verlegt, dass man nicht in zwei Jahren alles wieder aufreißen muss.
Durch eine hübsche Parkanlage, die zum Picknick einlädt, gelange ich zum Hafen und laufe am Wasser entlang zurück in Richtung Altstadt.
Dabei komme ich an der wohl bekanntesten Stettiner Sehenswürdigkeit vorbei: der Haken-Terrasse, benannt nach Hermann Haken, Stettiner Bürgermeister von 1878 bis 1907. Unten eine Grotte mit Springbrunnen, darüber eine große Freitreppe und das Nationalmuseum und rechts davon das rote Gebäude des Woiwodschaftsamts Westpommern. Von oben hat man einen guten Blick auf den Teil des Hafens, in dem die Fahrgastschiffe anlegen.
Der Weg führt unter dem großen Straßenkreuz hindurch, das von der Uferstraße und der Fernstraße 115 gebildet wird.
Wie überall in Europe sind auch hier alle Brückenpfeiler mit Graffitis „verziert“, worunter sich aber einige sehr originelle befinden. Die Polizisten mit dem Laser in der Hand sind z.B. eine gute Mahnung zur Drosselung der Geschwindigkeit.
Nun geht es noch ein bisschen im Zick-Zack durch die Altstadt. Der Weg führt vorbei am alten Rathaus (jetzt Museum für Stadtgeschichte) zum Heumarkt mit schönen alten Fassaden und einladenden Gaststätten.
Nicht nur die deutschsprachigen Hydranten erinnern hier an die deutsche Vergangenheit der Stadt.
Von der Straße Panienska mit einer langen Reihe schöner alter Häuser (unten links) führen Gassen hinauf zum Schloss (Mitte) und zum Loitzenhof (rechts), ehemals Sitz einer Kaufmannsfamilie, die durch Salzhandel zu Reichtum kam.
Auf der anderen Straßenseite wartet noch eine große Brache darauf, mit etwas Noblem und Teurem bebaut zu werden.
Und schon bin ich wieder an der Straße angelangt, die zur St. Jakobi-Kirche führt. Es ist noch zu früh, sich auf den Weg zum Quartier zu machen, deshalb will ich mir noch etwas anschauen, was mir auf einem der aushängenden Stadtpläne aufgefallen ist: den Stettiner Zentralfriedhof, der als einer der weltweit größten Friedhöfe gilt.
Ich halte mich leicht rechts und komme am neuen Rathaus und an der Rückseite des Hauptbahnhofs vorbei. Dann geht es durch ein Wohngebiet, das noch ein paar Reste militärischer Nutzung aufweist, und komme auf die Straße Ko Sloncu (Fernstraße 10), die nach Westen führt und die Nordgrenze des Zentralfriedhofs bildet.
Entlang eines endlos erscheinenden Zaunes (der aber nur einen Bruchteil der Straßenfront ausmacht) komme ich zum Haupteingang des Friedhofs.
Der Friedhofsplan lässt schon erahnen, dass man es hier mit einer Vielfalt an Grab- und Gedenkstätten zu tun hat.
Nicht weit vom Eingang entfernt findet sich ein Gedenkstein „zu Ehren der Helden des Septembers 1939“ und gleich dahinter ein Denkmal und ein Gräberfeld für Kriegs­veteranen, alle versehen mit einem stilisierten V als Grabstein.
Die einzelnen Grabfelder sehen tatsächlich sehr verschieden aus. Einmal sind es recht noble Gräber aus geschliffenem Stein und mit viel Grabschmuck, ein anderes Mal nur einfache Metallkreuze, die in einem kleinen Erdhügel stecken.
Auf einer Wiese stehen ein schlichtes Kreuz und ein großer Findling „zum Gedenken an die Toten der Stadt Stettin“.
Ein Stück weiter, nahe der Brunnenanlage wird es militärisch. Der Stein „zum Gedenken an die gefallenen Soldaten der 1. Polnischen Armee“ kommt noch schlicht daher, gleich nebenan flankieren aber zwei Haubitzen den Zugang zur Gedenkstätte für die Gefallenen des Frühjahrs 1945.
3000 sowjetische und 300 polnische Soldaten sind hier zu Füßen eines 1967 errichteten Denkmals begraben, das die sowjetisch-polnische Waffenbrüderschaft symbolisieren soll.
Der Stettiner Zentralfriedhof wurde zum Anfang des vorigen Jahrhunderts errichtet, etwa zur gleichen Zeit wie der Ostkirchhof in Ahrensfelde. Deshalb weisen sie einige Ähnlichkeiten auf. Zum Beispiel die große Hauptachse, die parkähnliche Gestaltung zwischen den Gräberfeldern und die Brunnen an Kreuzungspunkten von Wegen. Dass beide Friedhöfe von einem Planer namens Meyer entworfen wurden, ist allerdings ein Zufall.
Ich verlasse den Friedhof durch einen der südlichen Ausgänge und stehe an einer stark befahrenen Straße.
Diese laufe ich stadtauswärts, bis sich die Möglichkeit bietet, durch das Einkaufszentrum „Atrium Molo“ zu entkommen.
Auf der Straße Milczańska gelange ich über die Bahnanlagen auf die Allee Powstańców Wielkopolskich, die zu den Wohngebieten im Süden der Stadt führt. Es ist inzwischen Feierabendzeit und auf der Straße herrscht ein reger Verkehr.
Unter den Straßenbahnen ist von den bewährten Tatra-Bahnen bis zu modernen Niederflurwagen so ziemlich alles zu finden. Ich könnte mit meiner Fahrkarte eine davon nehmen, aber noch sind die Füße nicht lahm.
Je weiter ich komme, desto schmaler wird die Straße, die jetzt Budziszyńska heißt.
Letztlich trifft sie auf eine moderne Fußgängerbrücke, die über die Gleisanlagen führt und nochmal einen Blick auf die Neubauten zulässt.
Auf der anderen Seite der Gleisanlagen angekommen, stehe ich in der Straße Ustowka, die zweifellos zu meinem heutigen Ziel, dem Stettiner Vorort Ustowo führt.
Diese Straße stößt auf den Zubringer zur Autobahn. An der Ampelkreuzung geht es auf die andere Seite und dort ein Stück bergauf. Und schon ist Ustowo erreicht.
Außer dem Fitness-Parcours, der rings um ein Straßenkreuz eingerichtet ist, hat der ziemlich herunter gekommene Vorort nicht viel zu bieten, nicht einmal einen brauchbaren Fußweg.
Allerdings gibt es hier einige preiswerte Unterkünfte. Eine davon, die Villa Arkadia am Ortsausgang habe ich vorab gebucht. Das Grundstück sieht schon mal recht gepflegt aus.
Das Zimmer ist dem Preis entsprechend recht einfach, aber sauber. Die versprochene Gaststätte im Haus gibt es leider nicht, aber einen Kühlschrank im Frühstücksraum, wo man seinen Proviant unterbringen kann, und eine Kaffeemaschine mit Zubehör. Die Wirtin lässt mir noch was zum Essen machen und zaubert sogar Bier aus dem Kühlschrank. Auch gut.
Der freundliche Empfang wird nur dadurch getrübt, dass ich mich darum streiten muss, ob ich, wie bei der Bestellung explizit ausgewiesen, mit Kreditkarte bezahlen kann. Złoty habe ich nicht dabei und der hauseigene Wechselkurs für eine Barzahlung in Euro gefällt mir überhaupt nicht.
Im Fernseher sind nur polnische Sender zu finden. Das einzige, was man da versteht, sind die Ergebnisse der Bundestagswahl, die wir bei uns am Tag zuvor hatten.

Am nächsten Morgen will ich zeitig los. Um halb sieben stehe ich vor dem Frühstücksraum und freue mich auf den Kaffee - aber der Raum ist verschlossen.
So früh will ich hier niemand wecken und ziehe verärgert im Halbdunkeln los.
Das Laufen an der unbefestigten Straße hebt auch nicht die Stimmung und als mir im nächsten Ort einfällt, dass mein Proviant im Kühlschrank des verschlossenen Frühstücks­raumes liegt, kommt schlechte Laune auf. Ich drehe um.
Zurück in der Unterkunft ist es halb acht. Da sollte doch jemand zu greifen sein, der mich zu meinen Sachen lässt. Nach endlosem Klingeln und Klopfen kommt dann endlich der Hausmeister die Treppe runter und schließt mir auf.
Mit Stullen und Getränken im Gepäck mache ich mich erneut auf den Weg.
Dieses Mal laufe ich aber nicht entlang der Straße, sondern durch ein parallel dazu liegendes Wohngebiet mit ansehnlichen Häusern.
Endlich wieder im Nachbarort angekommen und den Abstieg zur Ober bereits bewältigt, ereilt mich die Gewissheit, dass ein Unglück selten allein kommt: Mein Anorak ist weg. Den hatte ich auf den Rucksack gebunden und vermutlich ist er beim Laufen an der Straße in einem Baum hängen geblieben.
Also nochmal zurück, zu Glück nicht umsonst.
Nach fast zehn Kilometern Umweg bin ich nun endlich wieder da, wo ich vor zwei Stunden schon mal war: In Kurów auf der parallel zur Oder verlaufenden Straße. Die Laune ist kaum besser geworden, das Wetter auch nicht.
Hier bauen die Leute eifrig schicke Häuser auf die Wiese zwischen Fluss und Straße, als wäre hier Hochwasser undenkbar. Dabei ist es doch nur eine Frage der Zeit, bis die Oder wieder über ihre Ufer tritt. Auch ohne Klimaerwärmung.
Innerlich vor mich hin meckernd habe ich Kurów verlassen. Links ist die Oder zu sehen, rechts ein Neubaugebiet, das sich auch allmählich dem Fluss nähert.
Da das Wetter auch nicht freundlicher wird, sondern Regenwolken aufziehen, habe ich schon den Glauben verloren, dass der Tag noch was Gutes bringt.
Aber da treffe ich auf einen Wanderer aus Berlin, der auch auf dem Jakobsweg unterwegs ist und wie ich heute bis nach Gartz will. Schnell kommt man ins Gespräch und allmählich verfliegt die schlechte Laune. Später wird mir mein Begleiter noch zum Lebensretter, denn er hat Mückenspray dabei, das ich Ende September für entbehrlich gehalten habe.
Die nächste Siedlung gehört schon zu Kołbaskowo, was einem von Schildern an der Autobahn bekannt vorkommt.
Hier gibt es Anlegestellen für Wassertouristen und hübsche kleine Rastplätze und Parkanlagen am Wasser.
Die Autobahn, die hier die Oder überquert, kommt auch wirklich bald in Sicht und hinter der Unterführung ein kegelförmiger Berg, der in Wanderführern wegen seiner guten Aussicht gelobt wird. Mein Weggefährte muss das unbedingt überprüfen. Ich nutze derweil den Rastplatz zu Füßen des Berges und hole das versäumte Frühstück nach. Abgestandenes Mineralwasser ist aber leider kein vollwertiger Ersatz für frisch gebrühten Kaffee.
Der Weg durch den nun folgenden Wald kann nur abschnittsweise als solcher bezeichnet werden.
Schilder und Wegweiser gibt es nicht, da muss die Karte auf dem Smartphone oder der Track auf komoot genügen.
Noch sicherer als die Karte ist aber der Mückenindex. Je näher man an das Wasser kommt, desto größer ist die Zahl der Mücken, die man mit einem Schlag auf den Armen oder im Gesicht erwischen kann. Tropischer Regenwald kann nicht schlimmer sein.
Aber kaum ist man aus dem Wald heraus, wird man für die Quälerei entschädigt. Große, leicht gewellte Felder und Wiesen, die durch kleine Wäldchen begrenzt werden, erfreuen das Auge selbst bei diesem trüben Wetter.
Es geht nun ein Stück auf Feldwegen durch die Landschaft und immer wieder ergeben sich schöne Blicke auf die Oder. Die Strohballen auf den abgeernteten Feldern sind bisher das einzige Indiz dafür, dass es hier auch Menschen gibt.
Das erste Dorf, auf das wir treffen, ist Moczyły (Schillersdorf). Das Dorf wurde 1325 erstmals erwähnt, die turmlose Kirche entstand Ende des 13. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert wurde ein hölzerner Glockenturm angebaut, in dem zwei Glocken aus den Jahren 1613 und 1616 aufgehängt wurden.
Die Kirche ist zwar im letzten Krieg nicht zerstört worden, aber dann nach und nach eingefallen, da sie nicht mehr genutzt wurde. Jetzt steht da leider nur noch eine Ruine.
Der Jakobsweg führt hinter Moczyły (Schillersdorf) ein Stück entlang der kaum befahrenen Landstraße, taucht dann links in den Wald ein und stößt alsbald auf die Oder.
Hier ist ein schöner Rastplatz eingerichtet, aber ich bin nur auf der Suche nach den Gräbern, in denen die Wanderer begraben sind, die vor uns von den Mücken getötet wurden. Hier kann man sich unmöglich niederlassen. Bestenfalls im Winter, wenn die Mücken im Anflug erfrieren.
Das nächste Dorf ist Pargowo, direkt an der Grenze gelegen.
Ein Ortseingangsschild ist auf dem Waldweg auf dem wir kommen, nicht zu entdecken, dafür ist der Ortsname mit Buchsbaum auf eine Wiese „geschrieben“.
Eine schon etwas verwitterte Info-Tafel gibt Auskunft über Pargowo: Der Ort wird erstmals 1240 als „Pyarch“ erwähnt, die wahrscheinlich aus dem 13. Jahrhundert stammende Kirche taucht erstmals 1336 in einer Urkunde auf.
Wie in Moczyły ist auch hier die Kirche seit dem Kriege nicht mehr genutzt worden und inzwischen verfallen. Allerdings nicht so stark wie dort, denn hier stehen noch alle Mauern und es fehlt „nur“ der Dachstuhl.
Der von einer kleinen Mauer umgebene Kirchhof ist völlig zerwühlt, vermutlich von Mensch und Tier. Ein Reisighaufen deutet darauf hin, dass hier jemand Ordnung schaffen wollte.
Was die Erde als „Schätze“ hergegeben hat, ist halbwegs ordentlich aufgereiht. Es ist zu hoffen, dass das nicht der Altwarenhändler, sondern ein Heimatforscher gewesen ist.
Am Ortsrand, dicht an der Grenze zu Deutschland ist mit EU-Mitteln ein Freizeitareal mit Fußballplatz, Fitness-Parcours, Schutzhütte etc. entstanden, das für sämtliche Dörfer zwischen hier und Stettin ausreichen dürfte. Gegenüber ist der ehemalige Friedhof zu einer Parkanlage ausgebaut worden, deren Bänke mit Sicherheit noch nie alle gleichzeitig besetzt waren. Das hier ausgegebene Geld hätte vermutlich für ein neues Kirchendach gereicht.
Von Pargowo sind es nur noch wenige Meter bis zur Grenze, die durch rot-weiße und schwarz-rot-goldene Grenzpfosten beidseits der Grenzsteine markiert ist.
Zwischen hier und Staffelde liegt nur eine Viehweide.
Wir wollen keinen illegalen Grenzdurchbruch versuchen und nehmen den asphaltierten Weg parallel zur Grenze bis zur nächsten Passage.
Hier ist man dabei, wegen der Afrikanischen Schweinepest Zäune aufzustellen.
Der kleine Rastplatz auf polnischer Seite ist deshalb gerade nicht benutzbar. Auf deutscher Seite gibt es zwar nichts zum Sitzen, aber was zum Lesen. Und die erste Jakobsmuschel.
Das der Jakobsweg bis hier her nicht ausgeschildert ist, ist keine Nachlässigkeit, sondern liegt wohl daran, dass die Genehmigung der polnischen Behörden noch nicht vorliegt.
Noch vor Staffelde trifft man auf die erste Sehenswürdigkeit: Ein Grabhügel aus der Bronzezeit, etwa 3000 Jahre alt. Allerdings nicht im Original, denn der echte wurde 1877 von nichts ahnenden Arbeitern abgerissen. Am Grund des Hügels fand man damals Scherben und eine Steinkiste mit fünf Urnen, in denen sich Asche und Knochenreste befanden.
Wie ein Stein mit Inschrift verkündet, wurde der jetzigen Hügel in den Jahren 2000 bis 2003 nachgebaut.
Im Ort trifft man noch auf eine andere Besonderheit: den „Staffelder Speicher“, der mal eine Feldsteinkirche war.
Da der Gutsherrschaft von Pargow und Staffelde zwei Kirchen zu teuer waren, baute sie 1814 eine zum Lager um.
Kurz hinter Staffelde trifft der Jakobsweg auf die B113.
Hier muss man sich entscheiden, ob man auf dem Jakobs­weg bleibt und in einem weiten Bogen nach Gartz läuft, oder die Straße nach Mescherin nimmt und dann entlang der Oder nach Gartz läuft. Mein Weggefährte entscheidet sich für die Abkürzung, ich nehme den ausgeschilderten Weg.
Der Jakobsweg verschwindet an der B113 im Wald. Er ist prima ausgeschildert, aber ganz schön zugewachsen.
Beim ersten Feld, auf das man trifft, muss man sogar nach links ein Stück durch hohes Gras stampfen.
Dann führt der Weg wieder ein Stück durch den Wald bis er in einen Wanderweg mündet, der am Feldrain verläuft.
Dort zeigen die Schilder nach rechts, obwohl man das Ziel links vermutet.
Das hat seine Richtigkeit.
Der Weg führt ja wie gesagt in einem weiten Bogen nach Gartz. Und dieser Bogen geht zunächst nach Westen. Leider hat es zu Regnen begonnen, da reut einen dieser Umweg.
Nach etwa 1,5 km entlang des Feldrains kreuzt der Jakobsweg die B2 und erreicht nach weiteren etwa 1,5 km Geesow - teils durch Felder, teils durch Wäldchen.
In Geesow gibt es zwar eine Bismarckeiche und eine gleichnamige Gaststätte, aber leider nichts zu trinken. Ob die Gaststätte generell geschlossen hat, oder nur weil Montag ist oder Corona herrscht, ist leider nicht zu erfahren.
Vermutlich bekommt man hier nicht mal Milch, denn die Tiere auf der Weide sehen noch ziemlich jung aus.
Da man hier die Zeit offenbar nicht im Gasthof totschlagen kann, vertreibt man sich offenbar dieselbe im Dorf mit Verschönerungsarbeiten.
Das Kriegerdenkmal ist mit Blumen geschmückt und viele Grundstücke sind dekoriert.
Hinter Geesow verläuft der Weg wieder abwechselnd durch Wald und Feld und sogar vorbei an einer Binnendüne, die sich zur Oder hin erhebt. Die Hochlandrinder auf der Weide bekommen scheinbar nicht oft Wanderer zu sehen, denn sie verfolgen mit großer Neugier jeden Schritt, den ich mache.
Die Obstbäume sind ohne Obst, die Infotafel ist ohne Info (aber wenigstens mit Jakobsmuschel versehen) und auch der Bauer sucht verzweifelt irgendwas auf dem Feld ...
Gegen 16 Uhr habe ich endlich Gartz erreicht. Ich gelange vom Norden her über den Tantower Weg in die Stadt und komme zunächst durch das wenig attraktive Scheunenviertel.
Aber über die Bäume ragt schon der Kirchturm heraus, der verspricht, dass es hier noch viel Sehenswertes zu entdecken gibt. Und so ist es wirklich!
Über die erste Sehenswürdigkeit stolpere ich schon nach wenigen Metern, noch vor der Stadtmauer: Eine große Fachwerkhalle, die sorgfältig mit hellem Backstein ausgefacht ist und sich offensichtlich in bestem Zustand befindet. Auf einer Tafel neben der Tür erfahre ich, dass es sich um einen Kanonenschuppen handelt, der 1850 zur Aufnahme von 12 Kanonen gebaut wurde und später als Fabrik, Obdachlosenunterkunft unf LPG-Gebäude genutzt wurde. Seit einer umfassenden Sanierung 1995 dient der Fachwerkbau als Stadthalle.
Durch das im 13. Jahrhundert erbaute Stettiner Tor, das letzte der ehemals vier Stadttore, gelange ich die von einer Stadtmauer umgebene Stadt, die schon 1124 erstmals urkundlich erwähnt wurde und 1249 Stadtrecht erhielt.
Seit 700 Jahren ist die Stadt auch Mitglied der Hanse. In den nachfolgenden Kriegen ist Gartz wiederholt zerstört worden.
Vor dem Stettiner Tor bin ich noch an einer anderen Sehenswürdigkeit vorbeigekommen: dem Rathaus von Gartz, das recht unüblich außerhalb der Stadtmauer liegt.
Es wurde 1900-1904 als Königlich Preußisches Amtsgericht errichtet und dient erst seit 1953 als Rathaus.
Beim Blick zurück ist das Stettiner Tor kaum wiederzuerkennen, da auf der Innenseite der markante Ziergiebel fehlt.
Der Blick nach vorn fällt auf die im 13. Jahrhundert erbaute Kirche des früheren Heilig-Geist Hospitals, die Ende des 18. Jahrhunderts zu Wohnzwecken umgebaut und vor 20 Jahren umfassend rekonstruiert wurde. Heute finden hier Ausstellungen und Konzerte statt.
An der nächsten Straße habe ich schon mein Tagesziel erreicht, die Pommernstube, wo ich dieser Nacht schlafen und vermutlich meinen Weggefährten wiedertreffen werde.
Da der Regen gerade aufgehört hat und es erst halb fünf ist, beschließe ich, nur schnell das Zimmer zu beziehen, mich frisch zu machen und auf Stadtbesichtigung zu gehen.
Die Gartzer Stadtkirche St. Stephan, deren Turm ich schon von weitem gesehen hatte, erweist sich beim Näherkommen als eine teilweise Ruine. Nach schweren Beschädigungen im letzten Krieg ist nur der Chor wieder hergestellt und später der Turm ausgebaut worden. Das seitdem dachlose Langschiff ist derzeit eingerüstet, um das Mauerwerk zu sanieren.
Da sich keine Stelle findet, von der aus am die ganze Kirche fotografieren kann, greife ich mal zur Verdeutlichung des derzeitigen Zustandes auf eine Zeichnung zurück, die an einer nahe der Kirche befindlichen Pension angebracht ist.
Die ev. Stephanskirche wurde im 13. Jahrhundert erbaut und hundert Jahre später zu einer dreischiffigen Kirche erweitert. Der Chor stammt aus dem 15. Jahrhundert. Der 37 Meter hohe Turm hatte früher eine barocke Haube.
Nahe der Kirche stehen noch ein paar alte Häuser, die zwar ordentlich hergerichtet sind, aber leider alle ihre schönen Fassaden verloren haben.
Ein Stück weiter dominieren nicht sonderlich sehenswerte Neubauten der 50er Jahre.
Mein Interesse ist jetzt auf die bis zu 7 Meter hohe und 2 Meter breite Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert gerichtet, die noch einen Teil der Altstadt umspannt.
Leider ist sie nur an wenigen Stellen zugänglich.
An den Storchenturm in der Stadtmauer ist zum Beispiel nicht heranzukommen, da auf beiden Seiten die Privatgrundstücke bis an die Stadtmauer heran reichen.
Nach dem gescheiterten Versuch, von außen an den Storchenturm zu gelangen, gehe ich durch die in die Stadtmauer geschlagene Kantorgasse zurück in die Stadt, umrunde die Kirche und gehe hinunter zum Hafen.
Am Wasser angekommen ist als erstes sichtbar, was 40 Jahre „Völkerfreundschaft“ und 20 Jahre gemeinsame EU-Mitgliedschaft bislang nicht bewirken konnten:
den Wiederaufbau der 1945 zerstörten Oderbrücke.
Schön hergerichtet sind ein paar alte Gebäude am Hafen, der sehr ansehnlich hergerichtet wurde. Bei dem Haus links handelt es sich vermutlich um einen ehemaligen Speicher.
Der Hafen ist nicht gerade überfüllt. Wie es aussieht, sind nicht einmal die Angler mit dem Kahn gekommen. Hoffentlich gibt es im Wasser mehr Fische, als Menschen am Ufer.
Nur in der kleinen Gaststube der Villa Oderblick am Hafen tummeln sich ein paar Leute. Vermutlich Radfahrer, die hier untergekommen sind oder noch eine Bleibe suchen.
Ansonsten scheint die Stadt menschenleer zu sein. Aber das feuchte Wetter lockt ja auch nicht gerade auf die Straße. Vielleicht gibt's auch was im (polnischen?) Fernsehen.
Zurück in der Pommernstube wartet in der Gast­stube schon mein Weggefährte vom Vormittag und die Wirtin mit dem Bestellzettel. Während ersterer von seinem Weg über Mescherin erzählt, bereitet letztere ein ordentliches Bauernfrühstück zu.
Das ist ein sehr versöhnlicher Abschluss eines von miesem Wetter, aber vielen neuen Eindrücken und anregenden Gesprächen geprägten Tages.

P.S.: Auf der Webseite brandenburger-jakobswege.de ist die oben beschriebene Route in zwei Etappen geteilt: Stettin-Ustowo und Ustowo-Gartz. Da aber die 6 km vom Stettin in den Stettiner Vorort Ustowo keine richtige Etappe sind, habe ich hier diese Aufteilung unterlassen, obwohl ich in Ustowo übernachtet habe.
Die Tour hätte man auch gut in einem Tag schaffen können, dann aber ohne Stadtbesichtigung in Stettin.

Via Imperii - Stettin-Gartz