Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Puente la Reina nach Estella

Tag 5 (Mo, 2.5.2022) – Von Puente la Reina nach Estella

Es ist 14.20 Uhr, eigentlich noch etwas früh für die Abendnachrichten, aber ich habe gerade eine Waschmaschine angeschmissen und nun 40 Minuten Zeit.

Aber folgen wir der Chronologie: Ich habe die Nacht in Puente la Reina prima geschlafen, obwohl es da einen lautstarken Schnarcher gab und die Betten sehr eigenwillig konstruiert sind. Unter der Matratze ist ein Blechboden, der von zwei Querstreben gestützt wird. Wenn man sich da bewegt, macht das ein Geräusch, als ob eine Blechtonne ausgebeult wird. Als Untermieter kann man das vermeiden, indem man sich langsam zur Bettkante rollt und dann vorsichtig aussteigt. Der Obermieter im Doppelstockbett muss sich aber zwangsläufig hinknien und zur Leiter robben, was dann durch den Blechboden allen anderen mitgeteilt wird.

Ich hatte hier eigentlich bloß drei Probleme: 1. Das Untergeschoss war so dimensioniert, dass man sich beim Hinsetzen auf die Bettkante zwangsläufig den Kopf stößt. Und da im Alter das Gedächtnis nachlässt, ist mir das laufend passiert. 2. Wenn man ohne Taschenlampe aufs Klo geht, dann findet man zwar bei den halb geschlossenen Rollläden problemlos zurück, aber nicht wieder in den Schlafsack. Am besten, man hüpft mit dem Schlafsack aufs Klo, dann hat man nicht dieses Problem. 3. Wenn einem bei dem zu Recht gelobten Bord etwas durch die Ritzen fällt (zum Beispiel die Brille, was das Suchen erschwert), dann kommt man da nur ran, wenn man das Bett ein Stück vorzieht, was wiederum nur geht, wenn der Obermieter abgestiegen ist.

Um sechs ging wie üblich das Gewusel los und ein paar Minuten später hat sich jemand getraut, das Licht anzumachen. Bis auf zwei Spanier, die uns am Abend mit ihren Smartphone-Melodien, Telefonaten und Nachrichten aus dem Handy genervt hatten, hat das niemand gestört, denn alle anderen waren schon beim Packen. Darunter waren dieses Mal zwei Asiaten, ein Norweger, ein Pole und zwei Frauen von der Mosel - über mir die aus Koblenz, schräg gegenüber ihre Freundin aus Trier. Um der Familie ein Selfie auf der Brücke schicken zu können, habe ich mich noch rasiert, was mich mehrere Minuten gekostet hat. Dabei habe ich aber im Waschraum noch eine Brasilianerin kennengelernt.

Punkt sieben ging es los, auf der Calla Major durch den ganzen Ort bis zur besagten Brücke, die noch mal aus allen Winkeln fotografiert wurde, mit und ohne rasiertem Gesicht.

(15 Uhr: Umplatzierung der Wäsche von der Waschmaschine in den Trockner, wieder 40 Minuten Zeit. Kein Problem, hier gibt es im Getränkeautomaten San Miguel.)

Wie nicht anders zu erwarten, ging es wieder kräftig bergauf, unter der Autobahn hindurch nach Villatuerta, dem Dorf, das schon geraume Zeit sonnenbeschienen als Blickfang hinter Feldern zwischen Hügeln eingebettet zu sehen war. Ein Traum! Im Ort angekommen, wurde aus dem Traum zwar schnell Wirklichkeit, aber das Bild vom Anmarsch hat sich eingeprägt.

Am Ortseingang lockte ein Schild zu einem vermeintlichen Bistro, das aber nur aus einer Reihe Automaten bestand. Der Automatenkaffee schmeckt mir hier sehr, weshalb mich das nicht abschreckte. Neben Automaten für kalte Getränke und kleine Snacks wie Erdnüsse, Schokoriegel, Sandwiches usw. war da auch ein Automat für Burger und Ähnliches. Ich habe mir gedacht, dass die Wissenschaft nie so weit gekommen wäre, wenn nicht auch mal jemand zu einem Selbstversuch bereit gewesen wäre. Ich habe dort also mutig 2,50 € eingeworfen und die Panini-Taste gedrückt. Was da nach einer Minute Krach aus der Maschine raus kam, hatte auch die Form und Farbe eines Paninis, aber eine unbekannte Konsistenz. Wenn man es in die Hand nahm, klappte es vorne und hinten runter. Damit korrelierte auch der Geschmack. Von solchen Automaten sollte man also die Finger lassen, wenn man nicht gerade mit dem Hund unterwegs ist.

Dann war es aber auch mit dem Sonnenschein vorbei, was dem Wandern sehr zugute kam. Vor mir lief eine Frau mit einem kleinen Täschchen auf dem Rücken. Darauf angesprochen erzählte sie, eine Philippinerin, dass sie sich das Bein verletzt und deshalb das Gepäck zum nächsten Etappenziel geschickt hat. Es gibt mehrere Unternehmen, die das anbieten. Man hängt ein Tütchen mit 4 oder 5 € drin und Name + Zielort drauf an den Rucksack und lässt ihn an der Rezeption der Herberge stehen. Das kann man „Pilgern light“ nennen.

Auf dem weiteren Weg habe ich Norbert aus Frankfurt (Main) kennengelernt, der schon dreimal auf einem Teil dieses Weges und auf anderen Wegen in Santiago war, dieses Mal aber den kompletten Camino Francés laufen will. Ein Stück später fiel mir ein Mann auf, der viel fotografiert hat, was hier wie schon erwähnt außergewöhnlich ist. Während ich überall außergewöhnliche Gullydeckel und Türklinken fotografiere, hat dieser Mann Nacktschnecken auf dem Weg fotografiert und diverse Pflanzen am Wegesrand gepflückt, darunter wilden Spargel. Ich habe ihn gefragt, ob er Biologie-Lehrer ist, aber er entpuppte sich als ein Schriftsteller aus Dublin, der vor vier Jahren schon mal nach Santiago gelaufen ist und „Novellen“ über die einzelnen Etappen geschrieben hat.

Man läuft hier immer mal ein Stück mit jemand zusammen und trennt sich wortlos, wenn einer Pause machen oder etwas schneller laufen will. Ich bilde mir zwar ein, dass ich ein ausdauernder Läufer bin, aber ich bin nicht der Schnellste. Das hat den Vorteil, dass man, wenn man zeitig losläuft, alle anderen kennenlernt, weil die früher oder später an einem vorbeiziehen. Das würde mich überhaupt nicht stören, wenn da nicht die Sorge um den nächsten Schlafplatz wäre. Jeder, der an einem vorbeizieht, mindert bei einer ange­nommenen 50-Betten-Herberge die Wahrscheinlichkeit eines freien Platzes um 2%. Da ist man versucht, die Mitpilger als Konkurrenten zu betrachtet. Von solchen bösen Gedanken hat mich eine der wiedergetroffenen Frauen von der Mosel befreit. Sie meinte, man muss sich denken, dass jene, die an einem vorbei ziehen, die sind, die gebucht haben. Alle hinter einem sind jene, die einem freien Platz haben wollen. (Die kommunalen Herbergen müssen wohl die Hälfte der Plätze freihalten für Pilger, die nicht reserviert haben.) Das ist sehr weise und ich will das beherzigen. Man muss das Bangen um den nächsten Schlafplatz aus dem Kopf bekommen, sonst macht das Pilgern keinen Spaß. Schließlich soll es dem Stressabbau dienen. Ich bin ohne Stress angereist, nun will ich hier auch keinen haben. Deshalb will und werde ich nicht noch den Nachmittag damit verbringen, die Herbergen im nächsten Etappen­ziel anzurufen. Meine neue Devise ist, dass ich mich auf eine Nacht im Freien einrichte und mich riesig freue, wenn ich stattdessen ein Quartier bekomme. Das hat prompt geklappt.

(Meine Wäsche ist inzwischen fertig. Sie kam so trocken aus dem Trockner, dass man sie gleich hätte anziehen können. Da ich es aber so von zuhause kenne, habe ich sie trotzdem auf den Wäschetrockner gehängt.)

In Estella, dem „offiziellen“ Ziel der 5. Etappe wurde man gleich am Ortseingang von einem Wegweiser begrüßt, der auf mindestens 6 Herbergen verweist. Ich habe die Richtung zur kommunalen Herberge eingeschlagen und stand bald vor einem alten, einstöckigen Gebäude mit einem großen Herbergsschild davor, aber verschlossener Tür! Ich habe nicht gleich geschnallt, dass das dreistöckige Haus mit den Milchglas-Schaufensterscheiben daneben dazugehört. Das sah aus wie ein leeres Büro, aber die Tür öffnete sich und ich stand in der Rezeption der Herberge. Die Dame hatte zum Glück noch viele Zeilen in ihrem Belegungsbuch frei und ich bekam für 8 € ein Bett in dem genannten Altbau, der vermutlich schon seit Jahrhunderten Herberge war. Nicht sonderlich einladend, aber jedes Doppelbett ist auf drei Seiten mit Wänden versehen, was einen ruhigen Schlaf verspricht. Wie es in den Zimmern des neueren Gebäudes aussieht, weiß ich nicht. Im Erdgeschoss dieses Hauses ist der Aufenthaltsraum mit einer langen Tafel, einer Küchenzeile und Getränkeautomaten. Hinter den Häusern sind kleine Gärten, der eine mit Tischen und Stühlen, der andere mit Wäscheleinen, was darauf hindeutet, dass hier Wäsche gewaschen werden kann. Da sich inzwischen ein Beutel getragener Wäsche angesammelt hatte, der Pullover durchgeschwitzt war und die Hose mit ihren vielen Flecken schon wie eine Tarnhose aussah, habe ich die Gelegenheit gern wahrgenommen. Mit einer an der Rezeption erhältlichen Waschmittel­kapsel und 3 € hat die Waschmaschine hoffentlich alles sauber bekommen und der Trockner hat für 2 € alles weitestgehend getrocknet.

Um nicht warten zu müssen, bis man alles wieder anziehen kann, habe ich mir aus dem Rucksack ein paar Shorts geangelt, die Gummi-Ballerinas angezogen (bis hier her wie auf Mallorca üblich) und den Anorak angezogen. So bin ich zur Stadtbesichtigung aufgebrochen. Die vermutlich neidvollen Blicke der Frauen auf meine Schuhe habe ich durchaus wahrgenommen. Eine Frau wollte mir sogar mitteilen, dass ich versehentlich mit den falschen Schuhen vors Haus getreten bin - das habe ich zumindest rausgehört. Aber was soll’s? Eh das hier in der Zeitung steht, bin ich verschwunden!

Die Altstadt von Estella wird von vielen engen Gassen mit hohen Häusern durchzogen, so wie es in Pamplona zu sehen war. Dazwischen ein paar stattliche Plätze und ein paar schöne, einzeln stehende Gebäude. Dazu gesellt sich noch ein Fluss, der sich durch die Stadt windet und von alten steinernen Bogenbrücken überspannt wird. Besonders eindrucksvoll sind zwei Kirchen, die auf so hohen Sockeln bzw. Felsen errichtet wurden, dass man lange Treppen hinauf laufen musste. An die San Pedro de lu Rúa-Kirche, die man besichtigen konnte, schließt sich ein sehr schöner Klostergarten an. In der anderen war gerade Gottesdienst, wofür ich mich nicht optimal gekleidet fühlte.

Die Suche nach einer Gaststätte, in der man essen kann, war nicht so einfach wie erwartet. Insgesamt scheint es hier nicht so viele zu geben und die, welche einladend aussahen, hatten nur Snacks zu bieten. In einer Seitenstraße habe ich dann eine gefunden, die mit ihrer modernen Einrichtung nicht sonderlich einladend aussah, aber eine gute Speisekarte, auch in Englisch hatte. Dass die bis auf ein paar Automatenspieler ganz leer war, schiebe ich mal auf die Lage. Ich hatte mir als Abendbrot Paella in den Kopf gesetzt und hier gab es wenigstens was Ähnliches, Reis mit Meeresfrüchten. Das sah auch gut aus und hat lecker geschmeckt. Der Gedanke, dass es vielleicht nicht sonderlich schlau ist, weit weg von der Küste in einem leeren Restaurant Meeresfrüchte zu essen, kam mir erst später. Wenn in den nächsten Tagen plötzlich nichts mehr von mir zu hören ist, waren die Gambas am Tellerrand, die zwar nicht mehr lebten, aber noch ganz frisch aussahen, doch schon in die Jahre gekommen.

Ich gehe jetzt in die Herberge und werde morgen früh schon sehen, ob ich aufwache.

Camino Francés / Finisterre - Tag 5