Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von El Burgo Ranero nach León

Tag 18 (So, 14.5.2022) – Von El Burgo Ranero nach León

1.45 Uhr. Gerade ist schräg gegenüber eine SMS eingegangen, was nicht zu überhören war. Ich habe nämlich gerade eine Wachphase, die vermutlich bis zum Morgen andauern wird. Dieses Mal wirkt nämlich der Trick mit dem guten Ohr im Kopfkissen nicht, denn von dort kommt der Schall - der Störsender befindet sich unter mir und übertrifft alles bisher Dagewesene. Als ich gerade mal draußen war und zurückkam, war plötzlich Ruhe. Mein erster Gedanke war, „wenn den jetzt jemand erschlagen hat, dann hast Du wenigstens ein Alibi!“. Und da habe ich mich auch schon geärgert, dass ich die Tür so leise zugemacht habe, dass vielleicht gar nicht alle mitbekommen haben, dass ich draußen war. Aber mein Untermieter hat nur mal für die zweite Nachthälfte Luft geholt. Da nun meine Akkus alle aufgeladen sind, kann ich das Ladegerät aus der Steckdose ziehen und mit dem da unten „Christliche Seefahrt“ spielen, das heißt, mal ordentlich mit dem Bett schaukeln. Pech nur, wenn er in Angelkahn aufgewachsen ist, denn dann wird ihn das nicht stören.

5.15 Uhr. Das mit dem künstlichen Seegang war doch nicht die beste Idee. Das Schnarchen unter mir ging weiter und mir war schwindelig. Trotzdem oder gerade deswegen bin ich dann nochmal eingeschlafen. Im Zimmer suchen schon wieder die ersten Flakscheinwerfer die Decke und alles darunter Befindliche ab. Einer hat mich jetzt entdeckt und leuchtet mir direkt ins Gesicht. Bin ich beim Verhör oder sucht da jemand seine Socken In der falschen Ecke? Ewig werde ich hier auch nicht mehr rum liegen. Aber vor halb sechs hier rum zu wuseln halte ich für unanständig. Außerdem hat noch nicht einmal ein Wecker geklingelt.

Gerade fällt mir ein, dass ich schon wieder seit über einer Woche keine Emails mehr gelesen habe. Wer weiß, wie viele Lottogewinne, Pillensonderangebote und Mails einsamer Frauen mir schon wieder entgangen sind. Kann ja heute Abend mal nachschauen. Jetzt ist es gleich um sechs. Da werde ich mich auch in die Startlöcher begeben und mich schon mal beim „closed“ anstellen. Gerade hat bei der Engländerin gegenüber der Wecker geklingelt. Es ist also höchste Zeit aufzustehen.

Dreiviertel sieben bin ich in El Burgo Ranero los, ohne Kaffee oder sonst etwas im Bauch, weil es in der Herberge nichts gab. Der nächste Ort, Reliegos, war 13 km entfernt. Da haben Kaffee und Sandwich besonders gut geschmeckt. Die Strecke lief entlang einer Straße, aber da kam nur alle halbe Stunde ein Auto.

Am Weg standen wieder Bäume in exakt gleichem Abstand, jetzt aber stärkere in etwas größerem Abstand (früher gab es wohl weniger Fördermittel). Ich habe im Exerzierschritt 13 Schritte gebraucht. Diese Fortbewegungsart sah bestimmt noch komischer aus, als mein normaler Gang.

Der folgende, etwa 10 km entfernte Ort, Mansilla de las Mulas, war für die meisten das Etappenziel. Da das ein wirklich schöner Ort mit vollständiger Stadtmauer sowie vielen schönen Plätzen, umgeben von Häusern mit Arkaden und ansprechenden Gaststätten ist, habe ich sehr mit mir gerungen, ob ich dort bleibe, aber es war da erst kurz nach 12 Uhr.

Da an den Straßenschildern León in 12 km Entfernung ausgewiesen war, habe ich der Versuchung zu Bleiben widerstanden und bin weitergelaufen. Da das Wetter zum Laufen sehr geeignet war, wollte ich möglichst viel schaffen. Außerdem ist es so schön, hier nachmittags zu laufen. Während vormittags der Tross wie in einer Polonaise durch die Gegend zieht, bin ich nachmittags immer ganz allein.

Der Weg nach León zog sich dann doch ziemlich hin. Teilweise ging es durch freies Gelände, dann durch ein Industriegebiet und dann wieder entlang der Fernstraße und auf einer Fußgängerbrücke über diese hinweg. Dann kam endlich die Kathedrale in Sicht, aber bestimmt noch mehr als drei Kilometer entfernt. Die Kilometerangaben bezogen sich also auf den Stadtrand, den ich nun endlich nach 36 km erreicht hatte.

Zum Glück stand da ein Stück weiter der Wegweiser zu einer Herberge am Straßenrand: „Santo Thomás de Canterbury, 120 m links“. Da hätte ich nun keine Herberge erwartet, denn da war ein neues Wohngebiet. Aber siehe da, in einem der 6-Geschosser war auf der einen Seite eine Kneipe und auf der anderen eine Herberge. Sehr schön, ganz modern, etwa 6 Zweibettzimmer und drei Schafräume mit je 5 Doppelstockbetten, ordentliche Sanitär­anlagen, großer Aufenthaltsraum und kleiner Ausschank. Und es ist was frei, zum üblichen 12-Euro-Tarif. Prima.

Ich habe meinen Rucksack abgestellt und bin in die wirklich schöne Altstadt, habe mir die wunderbare Kathedrale angeschaut, bin ein paar Straßen abgelaufen, habe was gegessen und bin so rechtzeitig zurück in die Herberge, dass mir das freundliche Mädel hinterm Tresen vor ihrem 22-Uhr-Feierabend noch ein Bier zapfen konnte.

Mein 10-Bett-Zimmer ist nicht voll geworden, da sind mindestens noch 3 Betten frei. Ob die anderen beiden Schlafsäle überhaupt benutzt sind, weiß ich nicht. Es scheint wirklich so zu sein, das man in den Städten eher einen Platz in der Herberge findet, als auswärts. Neben mir steht am Bett ein Rollkoffer und so eine Art Beautycase. Da kommt mir doch schon wieder eine Ahnung, welche Art von Pilgerin da nächtigt.

Die Begegnungen haben sich heute in Grenzen gehalten, nur auf Raffael bin ich zweimal getroffen, aber der ist Einzelgänger und nach ein paar Worten immer wieder verschwunden. Die Pilgerschar hat sich hier irgendwie geändert. Die in Gruppen unterwegs sind, quatschen den ganzen Tag, aber die Einzelgänger bleiben hier eher unter sich und suchen nicht nach Gesprächen.

Irgendwann zog einer Anfang 40 an mir vorbei und fragte, ob ich Deutscher sei. Er stammt aus der Münchener Gegend und heißt Martin. Im Moment will er aber in gewohntem (schnelleren) Tempo weiterlaufen, weil er noch einen Gedanken zu Ende denken will. Es ist schön, wenn einem das jemand so direkt sagt, da weiß man, woran man ist.

Später habe ich ihn an einem Rastplatz wiedergetroffen. Jetzt hatte er Lust und Zeit zu einer Unterhaltung und wir sind ein Stück zusammen gelaufen. Sympathisch war gleich, dass er wie ich Hardcore-Pilger ist sind auch zum ersten Mal den Camino läuft. Er erzählte, dass er seit 23 Jahren Software-Entwickler ist (wie ich es 40 Jahre war) und dass er dann wegen Burnout und Panikattacken ein Jahr arbeitsunfähig war. Jetzt sucht er hier nach einer Orientierung für die Zukunft. Ob er in der Branche weiter macht, oder sich was ganz anderes sucht, wie zum Beispiel Verkäufer in einem Biomarkt, will er hier entscheiden. Ich weiß zur Genüge, wie man sich als begeisterter Programmierer fertig machen kann, aber ich habe das große Glück gehabt, dass ich in den letzten Jahren meines Arbeitslebens Vorgesetzte hatte, die mir das Gefühl vermittelten, für den Papierkorb zu arbeiten. Das erlaubte mir ohne schlechtes Gewissen mein Engagement auf das gerade erforderliche Maß herunterzufahren und mich dadurch vor Burnout zu bewahren. Auch nicht so gute Chefs können was Gutes bewirken!

Leider haben sich Martins und meine Wege in Mansilla getrennt, aber vielleicht trifft man sich nochmal. Ich wünsche ihm, dass er für sich die richtige Entscheidung trifft.

Camino Francés / Finisterre - Tag 18