Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Sarria nach Portomarin

Tag 27 (Di, 24.5.2022) – Von Sarria nach Portomarin

Um meine Gummi-Ballerinas zu schonen, bin ich in den Unterkünften meist in Socken unterwegs. In Sarria ging das voll daneben. Hier ist jemand beim Zähneputzen so viel Speichel aus dem Mundwinkel getropft, dass ich vor dem Waschbecken im Nassen stand. Das war bestimmt die Französin, die noch nach mir kam und abends ewig lange ihre Beine mit Eiswürfeln in einer Plastik-Tüte behandelt hat.

Beim Aufstehen haben sich die Franzosen auch besonders hervorgetan. Um 4.45 Uhr fingen die zwei französischen Männer im Raum und ihr schwäbischer Compagnion an, ihre Sachen zu packen. Als die fertig waren, verhandelten die beiden Spanier im Raum lautstark, ob sie auch aufstehen. Sie taten es und nun war der Raum so gut mit Smartphone-Licht ausgestrahlt, dass ich ohne eigene Lichtquelle gleich mit einpacken konnte. Dadurch war ich schon kurz vor sechs in der Spur.

Die Stadt war noch ganz verschlafen, aber ein paar Bars haben sich schon für die Öffnung um sechs vorbereitet. Ab sechs ist es in den Pilgerorten kein Problem, irgendwo einen Kaffee zu trinken. Ich wollte aber erstmal ein Stück laufen. Das ging letztendlich nur, weil der aus der Stadt herausführende Weg einen hellen Belag hat, da es hier ja erst gegen sieben hell wird. Der Weg führte vorbei an einem großen Friedhof, auf dem es ausschließlich die „Schließfächer“ mit Sarg drinnen und Namen draußen gibt. Dann ging es an der Bahnlinie entlang, unter einer großen Autobrücke durch und letztlich bergauf, bergauf, bergauf. Bald fiel der Blick von oben auf die Straßenbrücke, die ich gerade noch von unten bestaunt hatte. Auf dem Berg war eine sehr schöne Herberge, aus der gerade Dirk herauskam und, ohne mich zu bemerken, in der Pilgerschar verschwand.

Morgens waren schon ein paar Leute unterwegs, am Vormittag wurde es richtig voll, denn Sarria ist der letzte größere Ort vor der 100-km-Marke. Hier starten die Massen, die sich dann in Santiago die Pilgerurkunde holen, für die 100 gelaufene Kilometer nachgewiesen werden müssen. Die Urkunde ist in diesen Fällen nach meiner Auffassung so viel wert wie eine Guttenbergsche Doktorarbeit.

Ab hier sind unzählige, meist lautstark miteinander palavernde Gruppen unterwegs, ganze Schulklassen und vermutlich auch Kegelvereine, Häkelzirkel und Tupper-Freundinnen. Ab jetzt geht es als Polonaise durch die Dörfer. Man kommt sich mitunter mit seinem Rucksack auf dem Rücken und 700 km unter den Füßen ziemlich blöd vor unter den Spaß-Wanderern mit einem kleinen Beutelchen auf dem Rücken.

Heute bin ich mal ein ganzes Stück mit Hagen aus Bautzen gelaufen. Wir hatten vor ein paar Tagen schon mal ein paar Worte gewechselt. Heute war Gelegenheit zu einem längeren Gespräch. Er hat in den 80er Jahren in Berlin zwei Jahre Zahnmedizin studiert, ist aber dann zur Physiotherapie gewechselt und hat sich längst selbständig gemacht. Als wir auf das Thema Rente kamen, wusste er von vielen Patienten zu berichten, die wegen ein paar Mark mehr bis zum Anschlag arbeiten und dann bei ihm Dauergast sind und von einem Arzt zum anderen rennen. Schade, dass wir immer in verschiedenen Herbergen sind, er hätte sich abends immer schön um meinen L4/L5 kümmern können.

Kaum hatten wir uns getrennt, macht mein Smartphone die für einen Nachrichteneingang typischen Geräusche. Das kann nur meine liebe Schwägerin Barbara mit ihrer täglichen (heute etwas späten!) Aufmunterung sein. Schnell mal nachschauen. Mist, Brille weg! Die habe ich immer an meinem T-Shirt-Rand zu hängen, nun ist sie wohl doch mal verloren gegangen. Ich habe zwar eine Reservebrille, weil das Lesen ohne Brille gar nicht mehr geht. Aber ich hänge an der Brille, obwohl sie nach zweimal drauf schlafen völlig verbogen ist und ich Herrn Fielmann bitten muss, sie wieder gerade zu biegen. Ich hänge daran, weil ich mit den runden Gläsern John Lennon zum Verwechseln ähnlich sehe, wenn man mal vom Haupthaar absieht. Also, diese meine Lieblingsbrille soll nicht in einem Straßengraben vergammeln oder von der nächsten Schaf- oder Pilgerherde zertrampelt werden. Also schnell zurück und suchen, bevor sie von einem ungelenken Pilgerfuß getroffen wird. Zum Glück habe ich sie ziemlich schnell gefunden - in meiner Hosentasche.

In den Dörfern, durch die der Weg führt, sieht man hier auf fast jedem Gehöft eigenwillige Bauten auf Stelzen oder einem Steinsockel, die Wände bestehend aus quer liegenden Hohlziegeln, etwa 6 Meter lang, 2 Meter hoch, aber weniger als 1 Meter breit. Das sind Hórreros, wie mir jemand erklärt hat, die zum Trocknen von Maiskolben gedacht sind. Die Hohlziegel erlauben, dass der Wind durchpfeift, Stelzen bzw. Sockel verhindern, dass sich Mäuse an den Maiskolben bedienen.

In einer der ersten Bars am Wege wollte ich eigentlich nur einen Kaffee trinken, aber da die Kellnerin erfolglos jenen gesucht hat, der ein Bocadillo (Sandwich) mit Rührei bestellt hat, habe ich mich erbarmt und ihr das Ding abgenommen. Zusammen mit dem Kaffee und einem anderen Getränk ergab das ein gutes 10-Uhr-Frühstück.

Irgendwann bin ich auf Romana aus Österreich gestoßen, die mir in Villafranca mit ihrem perfekten Spanisch geholfen hat, in die Herberge zu kommen. Sie erzählte, dass sie am Tag zuvor mit zwei fleischeslüsternen Spaniern in einem veganen Restaurant gelandet ist. Nachdem sämtliche Speisewünsche der Spanier abschlägig beschieden wurden, sind sie in eine Gaststätte umgezogen, in der es richtige Steaks gab. Sie hat mir verraten, was man machen muss, wenn man ein besonders großes und gutes Steak bekommen will: wenn der Koch fragt, wie man das Fleisch gebraten haben will, muss man sagen „So wie Sie das immer machen.“ Auch dieses Mal war der Koch so gerührt, dass sie das größte Steak bekommen hat. Das muss man ja nicht in Spanien ausprobieren, das klappt bestimmt auch zuhause.

Zusammen haben wir die 100-km-Marke passiert und uns dort gegenseitig fotografiert. Bald darauf sind wir an einem großen Scheunentor vorbeigekommen, in dem eine Menschen­traube klemmte. Da drinnen hat der Hofbesitzer alle möglichen Speisen und Getränke auf Spendenbasis angeboten und Tische und Stühle für den Verzehr aufgebaut. Im Angebot waren verschiedene Kuchen und Torten, belegte Brote, leckere Kroketten, Eintopf, Salat, Eierkuchen und vieles mehr. Da musste ich mal zum Verkosten rein, zumal ich drinnen Ralf und Agnes entdeckt habe, die aber schon diniert hatten und bald aufbrachen.

Dann dauerte es nicht lange, bis der Regen einsetzte. Nicht sehr heftig, aber zeitweise doch so stark, dass der Poncho zum Einsatz kommen musste. Sowas haben sich auch die Light-Pilger für die 100 km bis Santiago besorgt. Vor mir hat einer einen Poncho übergezogen, da waren noch die Bügelfalten drin. Dann überholten mich junge Leute mit total identischen Ponchos, die alle eine spitze Kapuze auf dem Kopf hatten und wie die sieben Zwerge aussahen. Die können es aber nicht gewesen sein, denn zu sehen waren nur vier und zu hören waren acht.

Streckenweise sah es wirklich so aus, als würde eine Polonaise stattfinden. Kurz vor dem Etappenziel, Portomarin, wurde auf großen Tafeln darauf hingewiesen, dass der normale Wegverlauf ein sehr schwer zu überwindendes Stück enthält und dass links und rechts alternative Wege existieren. Ich habe einen solchen genommen, weil ich nicht ohne Not stürzen oder mir den Fuß verstauchen wollte. Dort angekommen, wo die Wege zusammen­laufen, konnte ich sehen, dass es sich bei dem schweren Weg um eine tief in den Felsen geschnittene Scharte mit sehr hohen, unebenen Stufen handelte. Und mittendrin klemmte eine beratungsresistente alte Dame, die nicht vorwärts kam oder sich nicht traute und alle anderen waren hinter ihr gefangen.

Da war ich trotz Umweg schneller am Ziel. Das war zunächst eine sehr hohe und lange Brücke über einen derzeit ziemlich leeren Stausee. Da der Wasserstand so gering war, konnte man an den Ufern die Ruine der früher dort stehenden Häuser sehen, die normalerweise von Wasser bedeckt sind. Auf dieser Brücke und über eine große Treppe geht es in die Stadt hinein, die eigentlich nur eine belebte Straße hat. Eindrucksvoll ist die große turmlose Kirche, die aber verschlossen ist.

Eigentlich wollte ich noch ein Dorf weiter, um dem Pulk morgen etwas voraus zu sein. Aber die gerade erst gewonnene Erkenntnis, dass das nächste Dorf mit Herberge über zwei Stunden entfernt ist, und die dunklen Wolken am Himmel haben mich bewogen, über ein Hierbleiben nachzudenken. Ralf und Agnes, die ich genüsslich am Bier nippend angetroffen habe, waren ein weiterer Anreiz. Henry und Tina, die mich just in dem Moment nach einem 40-km-Marsch eingeholt hatten, waren auch fürs Bleiben (zumal Henry hier gebucht hatte) und nun ist die ganze Clique hier zusammen und belegt trotzdem nicht mal vier Prozent der Betten in der Herberge, denn wir haben Quartier in einem Schlafsaal mit 130 Betten! Das wird eine interessante Nacht werden. Da die bald beginnt, mache ich jetzt mal Schluss.

Camino Francés / Finisterre - Tag 27