Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Lires nach Muxia

Tag 37 (Fr, 3.6.2022) – Von Lires nach Muxia

Es ist 14.30 Uhr. Ich sitze in Muxia vor der „Hafenbar“ und warte auf mein mutig bestelltes Menü: Caldo & Sardinas & Wein für 8 €. Das ist ja ein Friedenspreis. Bin gespannt, was kommt. Caldo kam schon, eine leckere Kohlsuppe. Und der Wein wurde geliefert. Wenn ich die Pulle alle habe, laufe ich im Zickzack zum Kap. Hoffentlich haben sie da breite Wege.

Ich habe hier in der kommunalen Herberge „Albergue Publico“ Quartier bezogen. Von außen ein hässlicher Betonbau, der einem Bunker ähnelt. Innen alles sehr freizügig. Ein riesiges Foyer, eine Küche, auf den breiten Fluren Sitzecken, auf dem Dach ein großer verglaster Raum und eine Dachterrasse. Und mittendrin im Obergeschoss ein Schlafsaal mit 12 Doppelstockbetten und Klo‘s/Duschen, sogar mal für die beiden häufigsten Geschlechter getrennt. Ich wüsste gern, ob das als Herberge gebaut wurde, denn für die 24 Personen ist das Ringsherum völlig überdimensioniert. Ich habe mal durchgezählt: im Haus gibt es für jeden einen Sessel und zwei Stühle. Zusätzlich innen und außen viele Bänke. Da ich kurz vor der Öffnung um 13.00 Uhr dort war und nur wenige vor mir da waren, konnte ich mir ein Bett aussuchen: Unterdeck an der Wand. Steckdosen gibt es ausreichend und sogar für jeden einen Spind.

Dass ich auf dem Pilgerweg Muxia erreicht habe, wurde mir in der Herberge nach sorgfältiger Prüfung der Stempel in meinem Pilgerpass urkundlich bestätigt. Gut, dass ich zuhause noch ein paar leere Ordner habe, einen brauche ich für meine Pilgerurkunden.

Inzwischen kam das Hauptgericht. Sehr übersichtlich arrangiert: zwei halbe Kartoffeln und zwei Fischlein, die im Kindesalter sterben mussten. Immerhin waren sie schon so heran­gereift, dass man sie nicht einfach wie Sardinen aus der Büchse verschlingen konnte. Hier war Geschick beim Zerlegen gefragt. Zum Glück haben wir in der Schule mal Sezieren geübt, zwar an Kuhaugen, aber immerhin weiß ich jetzt, wie Skalpell bzw. Messer beim Zerlegen unbekannter Spezies zu halten sind. Fein säuberlich habe ich die Wirbelsäule bzw. Hauptgräte freigelegt und alles ringsherum verschlungen. Insgeheim war ich froh, dass keine Kuhaugen als Hauptgericht kamen. Erfreuen wir uns also des Weines. Mit jedem Glas nimmt die Anzahl der Pilger zu, die hier auf der Suche nach ihrem vorgebuchten Quartier sind. Wenn ich nicht inzwischen einschlafe, werde ich mich alsbald auf den Weg zum Kap machen.

Den weiteren Weg werde ich mit einem zugekniffenen Auge zurücklegen, dann ist nämlich nur ein Berg zu umrunden. Mache ich beide Augen auf, sind es zwei. Irgendwas müssen die mir in den Wein getan haben. Gestern hatten wir als Thema, dass die Welt mal eine Scheibe war. Nun ist sie eine Kugel und ich habe gerade das Gefühl, dass sie sich sehr schnell dreht.

In meiner Herberge ist neben Sarah aus Bielefeld, mit der ich in der Warteschlange gestanden habe, eine Bretonin aus Vannes (Morbihan), die ganz erstaunt war, dass ich ihre Heimat kenne. Erkannt habe ich sie an der Fahne am Rucksack.

Plötzlich durchzuckt es mich. Habe ich überhaupt in der Gaststätte, in der es so reichlich Wein gab, bezahlt? Nein! Aber das ist nicht schlimm, denn ich bin ja noch dort und kann das nachholen. Ich war nur etwas weggetreten. Ich erhöhe die Rechnung um eine Tasse Kaffee und hoffe, dass ich so präpariert in meinen Gummi-Ballerinas den Weg um das Kap schaffe.

17.45 Uhr. Ich bin zumindest schon mal am Kap angekommen. Die Kirche, die hier am ziemlich letzten Punkt steht, ist leider nur bedingt zugänglich. Der Vorraum steht offen und erlaubt einen Blick in die zwar nicht sonderlich schön, aber sehr reich ausgestattete Kirche. Man könnte meinen, man sei in einem Schifffahrtsmuseum, denn an den Wänden und von der Decke herabhängend finden sich hier überall Schiffsmodelle, vermutlich von Schiffen, die damals über den Rand der Erdscheibe hinaus gefahren sind.

Hier habe ich gerade die über alle Backen strahlende Koreanerin wiedergetroffen, die mich vor etwa vier Wochen (oh Gott, wie lange liegt das alles schon zurück!) mal in ein Gespräch verwickelt hat, weil ihr Mann nicht mit Fotografieren fertig geworden ist. Zu den Freundschaften, die hier entstehen, sei gesagt, dass mich vorhin Ralf angerufen hat. Er ist gestern gut zuhause angekommen - zweimal wöchentlich geht ein Flug von Santiago nach Memmingen! Er will mich mal besuchen kommen, wenn er in der Nähe von Berlin unterwegs ist. Das würde mich freuen, denn das ist ein ganz netter, unaufgeregter Typ.

Da der Regen stärker wurde, bin ich wie einige andere auch wieder in den Vorraum der Kirche geflüchtet und habe ich mich dort auf einer Stufe hingesetzt. Ziemlich genau um sechs knarrte hinter mir eine Tür und der Küster, oder wer immer es war, ließ die Leute zum Schauen und Staunen rein.

Was hier wie ein prunkvoller, vergoldeter Altar aussieht, ist nur das Foto einer Wandmalerei. Nur die Figurengruppe in der Mitte ist echt: Maria mit Jesus auf dem Arm und einem goldenen Kranz auf dem Kopf, auf einem Boot stehend, in dem ein Engel rudert und ein anderer steuert. Davor auf einer Insel im wogende Meer ein Mann, der nur von hinten zu sehen ist, bei dem es sich aber vermutlich um Jakobus handelt. Welche Geschichte genau dahinter steckt, weiß ich nicht, aber das ist so eine Darstellung, bei der man sich selbst viel denken kann. Schlicht gemacht und trotzdem eindrucksvoll.

Die Schiffe, die hier von der Decke hängen, sind nicht alle der christlichen Seefahrt zuzuordnen. Da ist auch eins dabei, reich geschmückt mit der spanischen Fahne, das eher der Kriegsmarine zuzuordnen ist. Hier ist ein Gewusel in der Sakristei und im Altarraum, dass man meinen könnte, es geht gleich ein Gottesdienst los. Vielleicht halb sieben, in fünf Minuten? Ich warte mal noch einen Moment.

Nein, halb sieben war nicht. Ich bin deshalb mal auf den Felsen mitten auf der Landzunge gestiegen. Vom Hafen aus sah es spektakulär aus, wenn da oben Leute rumtanzten. In Wirklichkeit kann man mit einem Krankenfahrstuhl fast bis auf die Spitze fahren. Da führt ein mit Natursteinen gepflasterter Weg hoch, der nur zum Schluss ein paar Stufen aufweist. Von oben hat man einen schönen Blick auf Hafen und Stadt, das Meer ringsum sowie Denkmal, Kirche und Leuchtturm auf den Klippen.

Auf dem Rückweg habe ich noch mal einen Blick in die Kirche geworfen und siehe da, da fand nun doch ein Gottesdienst statt. Die spanische Predigt habe ich verpasst, aber die kann man sicher nachlesen. Es war eine Blitzmesse, halb acht war alles vorbei. Kaum war der Pfarrer in der Sakristei verschwunden, schaltete der Küster ungeachtet der fotografierenden Besucher das Licht aus, schloss das Hauptportal zu und trieb die Leute laut rufend durch eine Seitentür nach draußen. Ein bisschen mehr Feingefühl wäre da wünschenswert gewesen.

Es ist drei viertel zehn. In 20 Minuten ist Sonnenuntergang. Ich sitze auf der Dachterrasse und habe einen hervorragenden Blick. Der Wirt hat schon beim Einchecken gesagt, dass der Sonnenuntergang inklusive sei, dass er aber nicht versprechen kann, dass dieser stattfindet. Er findet statt. Grandios.

Gerade habe ich eine leckere Pizza eingefahren, die ich aus der Kaufhalle mitgebracht und hier in die Mikrowelle geschoben habe. Schinken, Käse und Oliven. Dazu ein Glas ein­gelegte Paprika. Hat lecker geschmeckt. Gleich nebenan ist eine zweite Herberge. Da ist mir Christian um den Hals gefallen. Das war der aus dem italienischen Food-Valley (Parma und Umgebung). Den habe ich auf einer der ersten Etappen kennengelernt. Wie immer war er sehr fröhlich, um das mal freundlich zu umschreiben. Ein netter Kerl.

Ein Spanier hat mich hier auf der Dachterrasse an seinen Tisch gewinkt, damit ich mich nicht immer zum Fotografieren in eine Ecke zwängen muss. Langsam wird es voll auf der Terrasse. Leider sind auch die beiden Italienerinnen dabei, die vorhin beim Einchecken schon dadurch aufgefallen sind, dass sie nicht eine Minute die Klappe halten können. Aber zum Glück verschlägt ihnen der grandiose Sonnenuntergang den Atem. Es ist großartig, ein Dutzend Leute auf der Dachterrasse und es ist nichts zu hören. Alle scheinen die Luft anzuhalten. Ich traue mich gar nicht, auf die mitgebrachten Nüsse zu beißen, um nicht die Andacht zu stören.

Jetzt ist es vollbracht. Die Sonne ist hinter dem Rand der Erdscheibe verschwunden und mit ihr auch alle Leute auf der Dachterrasse. Nun zeigt sich auch wieder der Regen, der sich die ganze Zeit zurückgehalten hat.

Camino Francés / Finisterre - Tag 37