Unterwegs auf der Via de la Plata und dem Camino Sanabrés von Sevilla nach Santiago de Compostela
Tag 27 (Sa, 23.3.2024) Granja de Moreruela - Tábara / 23,8 km
Die Nacht war heute praktisch um vier zu ende. Warum auch immer, die beiden Franzosen hatten beschlossen, um diese Zeit aufzustehen und aufzubrechen. In der Meinung, damit weniger zu stören, haben sie ihre Sachen in die benachbarte Küche getragen und dort gepackt. Dazu ist aber der kräftige Fellmützenträger fünf- oder sechsmal schweren Schrittes in den Schlafraum gekommen. Bei dem alten Haus mit knarrenden Dielen hat man die Schritte auch gehört, wenn jemand im Raum nebenan gelaufen ist. Die im Schlafraum darunter haben bestimmt noch mehr davon gehabt. Hier gibt es ja keine Deckenisolierung. Da hat man Balken und darüber Dielen. Dass obendrauf noch Laminat lag, war schon Luxus.
Kaum waren die Franzosen raus, standen um 4.18 Uhr die beiden Italiener auf. Die hatten ihre Rucksäcke schon abends gepackt und brauchten sie nur raustragen. Die haben dann allerdings noch nebenan genüsslich gefrühstückt - inklusive wiederholter Benutzung der Mikrowelle, was ja auch ziemlichen Krach macht. Ich bin dann aber nochmal eingeschlafen und kurz vor sechs aufgewacht. Inzwischen war auch der Pole aus unserem Zimmer weg. Übrig waren da nur noch wir vier Deutsche. Sind wir eine Langschläfernation?
Nach ein paar Mal hin- und herdrehen bin ich dann aber auch raus und habe alle französischen und italienischen Unsitten kombiniert, nämlich in ein paar Gängen meine Sachen rausgetragen und mir dann Frühstück gemacht - inklusive Kaffee aus der Mikrowelle. Letzteres erforderte aber mangels Tassen einiges Improvisationsvermögen. Mit einem geliehenen Taschenmesser habe ich eine Wasserflasche auf Tassenmaß geschnitten und darin das Wasser heiß gemacht.
Um sieben bin ich aufgebrochen - ein paar Meter nach links, an der Kirche vorbei und an der Weggabelung dem Schild mit der Jakobsmuschel und der Aufschrift „Por Ourense“ nach links folgend. Nun bin ich von der Via de la Plata runter und auf dem „Camino Sanabrés“, der nach einem Ort an der Strecke so genannt wird. Irgendwo ein Stück links des Weges müssen die Ruinen des Klosters Moreruela (Monasterio de Santa Maria de Moreruela) sein, die man auch innen besichtigen kann. Bilder von dieser auch als Ruine noch sehr eindrucksvollen Anlage hingen in der Herberge und dem Wanderführer ist zu entnehmen, dass es sich um eines der ältesten Zisterzienserklöster auf der iberischen Halbinsel handelt. Am Beginn eines möglicherweise anstrengenden Tages wollte ich aber auch keinen Umweg machen, der in der Summe fünf Kilometer lang wäre, zumal man so früh dort eh keinen Einlass gefunden hätte. Gestern Abend hätte man das aber noch gut als Abendspaziergang machen können und wär‘ vielleicht sogar noch eingelassen worden.
Von Granja de Moreruela ging es auf einem gut begehbaren Feldweg vorbei an großen Dehesas, bis ein steiler Abstieg kam, der zu einer Landstraße führt, die sich noch um ein paar Felsen schlängelt und dann auf einer mittelalterlich anmutenden Steinbrücke dem Rio Esla überquert, der sich hier durch die Felsen zwängt. Am Abstieg, der bereits schöne Fotomotive bot, hat mich Meindert aus den Niederlanden eingeholt, ein Bärtiger mit großem Hut und einem kleinen Plüsch-Affen auf dem Rucksack, den ich schon wiederholt getroffen habe, der aber meist in Pensionen übernachtet. Das ist also nicht jener Niederländer, von dem immer mal die Rede war und dessen Hut ich gefunden habe. Meindert erzählte mir, dass er vor zwei Jahren mit Pilgern angefangen hat. Da ist er von zuhause, einem Dorf am IJsselmeer bis nach Santiago gelaufen. 2800 km. Bis Vezeley in Frankreich war er allein unterwegs. Ab da hat ihn seine Frau mit dem Auto begleitet. Sie ist immer vorgefahren und hat Quartier gemacht und unternommen, was ihr Spaß macht, und er konnte mit leichtem Gepäck wandern. So haben sie zusammen elf Wochen auf dem Jakobsweg verbracht.
Hinter der Brücke über den Rio Esla trennten sich unsere Wege. Meindert ist den offiziellen Weg gelaufen, der auf den ersten tausend Metern auf einem Trampelpfad auf halber Höhe um die aus dem Wasser herausragenden Felsen führt. Das war bestimmt mit schönen Aussichten verbunden, aber nicht das Richtige für mich. So trittsicher bin ich nicht mit dem Rucksack auf dem Rücken und außerdem wollte ich ja mein Laufwerk etwas schonen. Zudem hat mir gestern Abend Andreas per WhatsApp empfohlen, der Schwierigkeit des Weges wegen lieber die Landstraße zu nehmen. Die hatte hier zwar nicht solch einen breiten Seitenstreifen wie die N-630 (auf die ich nun nicht mehr treffen werde), aber der Belag war glatt und ich kam gut voran.
Gegen Mittag war ich nach 18 Kilometern im ersten und einzigen Ort an der Strecke, Faramontanos de Tábera, und habe dort erwartungsvoll einen in der Karte verzeichneten Supermarkt angesteuert. Das war eigentlich ein Fleischer, der aber auch noch andere Sachen im Angebot hatte. Da war aber nichts von dem dabei, wonach ich gesucht habe. Da zu erwarten war, dass ich wieder genau zur Siesta am Ziel sein werde und dann alles geschlossen ist, wollte ich mir noch Belag für das mitgeschleppte Brot besorgen.
Die in der Nähe befindliche, laut Karte einzige Kneipe im Ort hatte zu. Die Fenster standen zwar offen und drinnen putzte jemand, aber der hielt mir bei meiner Frage nach einem Getränk vier Finger hoch, was ich als „öffnet um vier“ gedeutet habe. Aber vielleicht hieß das auch „in vier Minuten“ oder „mindestens vier Bier“. Auf jeden Fall bin ich törichterweise weiter, ohne nochmal ein anderes Kartenprogramm oder die „Buen Camino“-App nach einer Kneipe zu befragen. Christel und Sybille, die über zwei Stunden später gestartet sind und schon bis auf eine Stunde aufgeholt hatten, waren da cleverer. Sie haben eine offene Bar gefunden und mir Bilder einer verlockenden Bier-Tortilla-Kombination geschickt. Das war nun schon das zweite Mal, dass sie eine Tränke gefunden haben, wo ich durstig weitergezogen bin. Wenn ich mit deren Laufschritt mithalten könnte, würde ich mich an ihre Hacken heften.
Da ich nun schon mal auf der Landstraße war, bin ich auch dort geblieben, statt auf den halbwegs parallel dazu verlaufenden Camino zu wechseln. So konnte ich schon mal Teil 1 meiner heutigen Memoiren zu Ende schreiben. Auf einem holprigen Weg sollte man ja doch eher auf den Boden als aufs Smartphone schauen. Außerdem habe ich es so geschafft, noch vor dem 14-Uhr-Ladenschluss in meinem Zielort Tábara zu sein und einzukaufen. Im Ort bin ich doch prompt Andreas in die Arme gelaufen. Er und Bastian sind heute früh nicht weitergelaufen, sondern für eine weitere Nacht in Tábara ins Hotel gewechselt, weil Bastian Probleme mit der Schulter hat und nun auch noch von Dünnpfiff geplagt wird. In der Herberge am andern Ende des Ortes bin ich auf lauter Bekannte getroffen, aber auf weniger als erwartet: der Engländer und der Niederländer mit dem verlorenen Hut, die Norwegerin und die in Spanien lebende Russin Svetlana, die offenbar auf dem Camino Homeoffice macht. Die beiden deutschen Damen kamen bald nach mir und später noch Henry aus Seattle, der am 28. Februar in Valencia gestartet ist und nun schon ganz Spanien durchquert hat. Bei dieser achtköpfigen Belegung ist es geblieben.
Da mich mal wieder nach einem Salat gelüstete, es aber im Supermarkt keinen Salatmix gab, habe ich mir einen Kopf Eisbergsalat und das obligatorisch Glas Pimentos (Paprika­streifen in Öl) genommen und wollte das in der Herberge schön zusammenschnippeln. Die Hospitalera hat mir aber weder Schüssel noch Teller rausgerückt. Da es hier in der kommunalen, auf Spendenbasis betriebenen Herberge Abendbrot und Frühstück gibt, ist keine Küchennutzung vorgesehen. Da habe ich mir meine Stullen an einem Tisch auf der Terrasse auf einer Plastiktüte als Unterlage geschmiert und wie ein Karnickel die Blätter vom Kohlkopf gerupft und auf die Wurst gelegt oder in das Pimentos-Glas getunkt.
Da bis zum Abendessen noch viel Zeit war, habe ich vorher einen Bummel durch den Ort gemacht, der in seinem Zentrum ganz nett ist, aber von einer viel befahrenen Fernstraße durchschnitten wird. Auf der einen Straßenseite dominiert eine Kirche mit ihrem markanten quadratischen Turm, die nunmehr aber ein kleines Museum ist, in dem wertvolle hand­kolorierte fromme Bücher gezeigt und erklärt werden. Auf der anderen Straßenseite ist eine Parkanlage, umgeben von ein paar wenigen Gaststätten und Geschäften sowie der Pfarr­kirche mit dem hier üblichen „Turm“, der eigentlich nur Fassade ist. Vor einem Restaurant habe ich Meindert mit einem Glas Vino Tinto sitzen gesehen. Der will hier einen Tag aussetzen. Er läuft immer nur sechs Tage und macht dann sonntags Ruhetag. So ähnlich steht es in der Bibel, da geht es nur nicht ums Wandern, sondern ums Arbeiten. Er will etwa zur gleichen Zeit wie ich in Santiago sein, da werden wir uns wohl nochmal begegnen.
Als die Sonne hinter den Häusern verschwunden war, wurde es abends ziemlich kühl. Darum hat hier jemand im Schlafraum den Heizkörper angemacht, woraufhin laufend die Sicherung raussprang, weil nebenan gerade unser Abendessen auf dem Herd stand. Da Hunger schwerer zu ertragen ist als Kälte, haben wir es hingenommen, dass die Köchin uns den Stecker gezogen hat, um weiter kochen zu können. Bei der „Köchin“ handelt es sich um eine Frau mittleren Alters, die nur mal zwei Tage hier ist, um zu sehen, ob Hospitalera etwas für sie wäre. (Ich glaube nicht.) Der eigentliche Hospitalero, der auch dauerhaft im Haus wohnt, hat uns dann zum Abendessen, Suppe und Paella, begrüßt und musste feststellen, dass kein Spanier dabei ist. Die einzige, die sich mit den beiden Hospitaleros unterhalten konnte, war die gut Spanisch sprechende Russin. Da die nun aber wieder kein Englisch spricht und folglich nichts übersetzen konnte, haben wir von der Konversation zwischen ihr und der Hospitalera nicht viel mitbekommen. Ich habe nur rausgehört, dass sie in Málaga gestartet ist, also schon ein Stück mehr gelaufen ist als die anderen.
Da der neben mir sitzende Hospitalero so ganz unbeteiligt war, habe ich ihn gefragt, ob er der auf der Gronze-Webseite als Betreuer genannte Schriftsteller José Almeida sei. Da kam Leuchten in seine Augen und er holte stolz ein von ihm geschriebenes Camino-Buch aus dem Regal, auf dem noch zwölf andere Bücher von ihm abgebildet sind - alles Bücher über den Jakobsweg. Der wohnt also nebenan, betreut im Auftrag eines Pilgervereins die Pilger und schreibt nebenbei Bücher. Prima. Mit drei Flaschen verschiedener Obstliköre, die er zum Schluss auf den Tisch stellte, hat er wieder acht Pilger zu seinen Verehrern gemacht.

Via de la Plata - Tag 27