Es ist Mittwoch, der 29. September 2021. Ich bin unterwegs auf dem Jakobsweg, welcher der Via Imperii von Stettin nach Berlin folgt. Am Vortag bin ich in Gartz an der Oder angelangt, heute soll es weiter nach Schwedt gehen. Gestern habe ich einen Berliner Wanderer kennengelernt, der auf dem gleichen Weg unter­wegs ist. Der hat wie ich in der Pommernstube übernachtet und wir haben uns zum Frühstück verabredet. Das ist zwar mit 10 € ziemlich überteuert, aber viele Alter­nativen, was in den Magen zu bekommen, hat man hier nicht.
Als wir losziehen, meckert freundlich die Ziege, die zum kleinen „Hauszoo“ der Pommernstube gehört.
Vorbei an der St. Stephans-Kirche, der auf dem Langhaus das Dach fehlt, geht es raus aus der Altstadt. Hinter der Stadtmauer treffen wir auf die Kastanienallee, die sich um den Mühlenteich windet und dann nach Nordwesten verläuft.
Bevor unser Weg im nächsten Straßenknick abbiegt, kommen wir noch an zwei Supermärkten vorbei. In einem decken wir uns mit Wasser und Kleinigkeiten für unterwegs ein, u. a. mit Mückenspray, das gestern nicht zu haben war.
Der Weg von Gartz nach Hohenreinkendorf verläuft schnurgerade auf einer nur mäßig, aber keinesfalls langsam befahrenen Straße.
Diese ist mit Betonsteinen gepflastert und beidseits von Obstbäumen bestanden.
Die Felder rechts vom Weg sind mit tausenden Kranichen bevölkert, die sich hier zum Abflug sammeln und nochmal ordentlich satt fressen.
Immer wieder steigen kleine Grüppchen auf und fliegend kreischend davon.
In Hohenreinkendorf stoßen wir zunächst auf ein paar historische Gebäude jüngeren Datums, wie sie hier in vielen Dörfern zu finden sind:
ein alter Trafoturm, eine Straßenwaage aus DDR-Zeiten und die inzwischen modern aussehende Feuerwache mit einem hölzernen Schlauchturm auf der Rückseite.
Die Dorfkirche von Hohenreinkendorf, die auf einem sehr langgestreckten Anger liegt und von einer hohen Feldstein­mauer umgeben ist, stammt aus dem 13. Jahrhundert. Die Ersterwähnung des Dorfes (1243) fällt in die gleiche Zeit.
Seit 2002 ist Hohenreinkendorf mit seinen etwas mehr als 300 Einwohnern (2015: 328) ein Stadtteil von Gartz.
Am Anger biegt unser Weg links ab und verläuft nun auf der „Nebenstraße“, die bald auf die jenseits des Angers ver­laufenden „Hauptstraße“ trifft. Der Einfachheit halber heißen auch alle Straßen, die den Anger queren, „Nebenstraße“. Zum Abzählen der anderen Straßen braucht man keine komplette Hand - ein Straßenverzeichnis ist schnell erstellt.
Das Dorf macht einen gepflegten Eindruck und Angler deuten darauf hin, dass es im Dorfteich sogar Fische gibt.
Am Ortsausgang verlässt der gut ausgeschilderte Jakobsweg, auf dem wir uns befinden, die Hauptstraße (L271), verläuft etwa 1,5 km durch Felder und taucht dann in den Wald ein.
Das Wetter ist nicht wirklich schön, aber nach dem leichten Sprühregen am Morgen ist es jetzt wenigstens trocken. Aber die Wolken am Himmel sehen sehr bedrohlich aus.
Beidseits des breiten Weges sind Farne und Brennnesseln. Gestern hat es bei solcher Flora an Mücken gewimmelt, heute ist nicht eine zu sehen.
Ob das vielleicht daran liegt, dass ich heute Mückenspray im Gepäck habe?
Der nächste Ort, Heinrichshof, hat gleich zwei Besonder­heiten zu bieten: einen Eintracht-Fan und eine Gaststätte.
Das „Wirtshaus zur Linde“ hat so früh am Morgen zu, da hält uns nichts in diesem Ort. Wir folgen der einzigen Straße (L27) bis zum Ortsausgang, wo diese nach rechts abbiegt, wir aber geradeaus durch den Wald weiterlaufen.
Nach einer Weile lichtet sich rechts der Wald und wir laufen entlang einer großen, leicht gewellten Wiese. Die Landkarte klärt auf, das es sich hierbei um das Naturschutzgebiet „Trockenrasen Groß Pinnow“ handelt.
Ein Rastplatz an der Straße nach Groß Pinnow lädt zu einer Pause ein, während der man eine große Binnendüne bestaunen kann, die bis nahe an die ersten Häuser des Ortes heranreicht und dort mit einer Steilwand endet.
Der Weg führt lange in einer breiten Schneise durch den lichten Laubwald weiter nach Süden. Zwischendurch muss man mal über einen Elektrozaun klettern, der die Wildschweine davon abhalten soll, die Afrikanische Schweinepest einzuschleppen. Ein einzelnes Wild­schwein, das hier gelangweilt spazieren geht, mag sich von solch einem kaum sichtbaren Zäunchen beeindruckt fühlen, aber eine ganze Rotte?
Kurz vor Hohenfelde, wo eine Hochspannungsleitung kreuzt, wird man im 18.000 ha großen Landschaftsschutzgebiet „Nationalparkregion Unteres Odertal“ begrüßt.
Das fast genauso große deutsch-polnische Naturschutzgebiet „Nationalpark Unteres Odertal“, das 1993/95 eingerichtet wurde, schließt sich ein Stück weiter östlich an.
In Hohenfelde angekommen, ist zunächst keine Sehens­würdigkeit zu erkennen.
Aber da ragt ein kleines Türmchen über die Häuser, das zu einem Abstecher nach rechts einlädt, bevor wir links in die Moritzstraße abbiegen.
Wir stehen plötzlich vor einem kleinen Kirchlein auf dem Dorffriedhof.
1901 wurde dieser nur 14x7 m große Ziegelbau eingeweiht, bis dahin mussten die Hohenfelder zum Gottesdienst nach Vierraden laufen
Die Grabsteine für gefallene Kameraden rufen mir ins Gedächtnis, dass wir uns nicht weit von der Oder entfernt befinden, wo vor etwa 75 Jahren erbittert gekämpft wurde.
So gepflegt wie diese Gräber und der ganze Friedhof zeigt sich erfreulicherweise auch der Rest des Dorfes.
Die ordentlich asphaltierte und mit einem Gehweg versehene Moritzstraße, auf der unser Jakobsweg verläuft, durchzieht ein Wohngebiet mit sehr schönen Häusern und Gärten.
Dort, wo die Moritzstraße erneut nach rechts (Norden) schwenkt, biegt unser Weg links ab und verläuft ein ganzes Stück zwischen weiten Feldern, bevor er am Waldrand in einen Hohlweg übergeht, der bergab zur Welse führt.
Wir durchqueren hier das Naturschutzgebiet Müllerberge, das die Welseniederung im Norden flankiert.
An der Welse angekommen, biegt der Weg links ab und verläuft nun ein ganzes Stück entlang des Flusses, überquert die B2 und führt dann gen Süden nach Vierraden hinein.
Die 66 km lange Welse entspringt bei Friedrichswalde nördlich von Joachimsthal, durchquert den Barnim und die Uckermark und mündet bei Schwedt in die Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße, die zur Westoder führt und mit der „richtigen“ Oder das untere Odertal einschließt.
Die Maisfelder, durch die der Weg nach Vierraden zuletzt führt, sind so groß, dass sie Generationen von Kinogängern mit Popcorn versorgen könnten. Ähnlich groß waren hier wohl die Tabak-Plantagen, als in der östlichen Uckermark noch die von eingewanderten Hugenotten eingeführte Tabakproduktion und -verarbeitung florierte.
Angeblich war die Qualität so gut, dass man uckermärkischen Tabak auch als Deckblatt für teure Brasil-Zigarren benutzte.
Vierraden war einst durch den Tabak zu einer wohlhabenden Stadt geworden, jetzt ist es ein Stadtteil von Schwedt und man kann nicht gerade von pulsierendem Leben sprechen.
Die Funktion des Hungerturms (links oben), der einst Teil einer stattlichen Burg war, hat jetzt die (eventuell nur heute) geschlossene Gaststätte „Am Markt“ übernommen.
Das Tabakmuseum, in dem man bei dem einsetzenden Regen Unterschlupf hätte finden können, ist leider von Montag bis Mittwoch geschlossen.
Das Rütteln an der Kirchentür ersparen wir uns - es ist nicht anzunehmen, dass diese offen ist. Der wieder hergerichtete Tabakspeicher (unten rechts) ist sicher nicht zu besichtigen.
Die Stimmung ist fast auf Tiefststand, als wir gen Schwedt weiterziehen. Aber es soll noch schlimmer kommen, denn am Ortsausgang, wo ein breiter betonierter Weg zum Geradeauslaufen einlädt, hätten wir nach links abbiegen müssen. Ob da kein Schild war, oder ob wir es übersehen haben, wissen wir nicht und unseren Fehler erkennen wir erst an der Brücke über die B2. Zurückgehen liegt uns nicht, irgendwie wird man auch geradeaus nach Schwedt kommen. Das PCK ist ja schon zu sehen. Inzwischen regnet es so stark, dass keiner von uns beiden Smartphone oder Karte zücken will. Es geht blindlings weiter, bis der Zaun des PCK's das Weitergehen verhindert. Wir laufen links herum am Zaun entlang, in der Hoffnung, irgendwann auf die aus Schwedt ins Werk führende Straße zu treffen.
Ganz so weit müssen wir dann zum Glück doch nicht. An einem „Beyerswald“ genannten Anwesen treffen wir auf die B2. Diese überqueren wir und nehmen auf der anderen Seite die Straße „Zum Beyerswald“, die in die Stadt führt (rechts).
Bis ins Zentrum ist es aber ein langer Weg - am Neuen Friedhof ist erst die Hälfte geschafft. Weiter geht es auf der Vierradener Chaussee, die hinter dem Bahnübergang einen Knick macht und auf die Lindenallee trifft.
Die Lindenallee (B166), die von NO nach SW durch die Stadt verläuft, ist deren Magistrale - geschaffen und ge­eignet für große Aufmärsche, aber nicht fürs Flanieren durch die Stadt - wonach uns aber beim anhaltenden Regen aber eh nicht ist.
Vorbei an endlosen Plattenbauten, die einem als Ost-Berliner sehr vertraut sind, gelangen wir zu einer Art Stadtzentrum.
Unter dem Vordach einer Imbissbude nehmen ich von meinem Weggefährten Abschied.
Wir haben in Schwedt verschiedene Unterkünfte gebucht und wollen am nächsten Tag auf getrennten Wegen und zu verschiedenen Zeiten nach Angermünde weiterziehen.
Es hat Spaß gemacht, zwei Tage miteinander zu laufen, mal in ein Gespräch vertieft und dann wieder eine Weile jeder für sich, so dass niemand dem anderen auf die Nerven geht.
Während meiner Einkehr in einem China-Imbiss hat der Regen endlich nachgelassen, so dass ich nicht den kürzesten Weg zur Unterkunft nehmen muss, sondern noch eine Runde durch die Altstadt drehen kann. Hier gibt es rings um den Vierradener Platz ein paar gut restaurierte alte Gebäude wie die ehemalige Seifenfabrik (links oben), das Amtsgericht (mit einem Knast hintendran) und das Gasthaus Lindenhof an der bei diesem Wetter völlig verlassenen Vierradener Straße.
Vierraden verfolgt mich heute auf Schritt und Tritt ... Jetzt, da es nicht mehr so schüttet, schließe ich aber meinen Frieden mit diesem Ort, schließlich wurde dort am 13. August 1284 der Frieden zu Vierraden zwischen Pommern und der Mark Brandenburg geschlossen.
Ich gelange wieder auf die Lindenallee, komme vorbei an der ehemaligen französisch-reformierten Kirche und laufe auf die Uckermärkischen Bühnen zu, deren Freitreppe auf dem Dach bei jedem Wetter von stets gleichen Leuten gut besucht ist.
Links am Theater vorbei geht es durch den sehr gepflegten ehemaligen Schlosspark ans Wasser (das nicht die Oder ist).
Auch auf der Rückseite können die Uckermärkischen Bühnen mit einer täuschend echten Illusionsmalerei aufwarten. In Wirklichkeit ist da nichts mit Glaskuppel oder Gewächshaus!
Das Wasser, auf das ich zulaufe, ist wie gesagt nicht die Oder, sondern der Hohensaaten-Friedrichsthaler Schifffahrts­kanal. Die Oder und damit auch die Grenze zu Polen verläuft etwa 3 km weiter östlich. Dazwischen liegt der besonders bei Radlern so beliebte Naturpark Unteres Odertal.
Auf dem Uferweg geht es nach links, bis ein Zaun das Weiter­gehen verhindert und ein Schild zur Rezeption des Wassersportzentrums zeigt.
Dort habe ich für diese Nacht gebucht und stelle schnell fest, dass dies keine schlechte Wahl war. Das moderne, an einen Schiffsrumpf erinnernde Gebäude enthält ein deutsch-polnisches Begegnungszentrum und ein paar sehr ordentlich ausgestattete Zimmer, meins sogar mit Blick aufs Wasser.
Ich tausche meine nassen Sachen gegen welche aus dem Rucksack, die nur klamm geworden sind, und mache mich nochmal auf den Weg ins Zentrum. Hunger habe ich nicht mehr, aber ein Feierabendbier will ich mir noch gönnen.
Ich drehe die schon bekannte Runde und stelle dabei fest, dass hier die Einkaufspassagen schon um 19 Uhr schließen!
In der Vierradener Straße steppt noch immer nicht der Bär, auch nicht in den Straßen ringsum. In der Berliner Straße sind Autos unterwegs, aber kaum Menschen. Am Wasser ist völlig tote Hose, aber in der Gartenstraße treffe ich auf einen recht großen und ordentlichen „Chinesen“, der mit einem Berliner-Kindl-Schild um Kundschaft wirbt - nicht vergeblich!
Die schöne warme Unterkunft, die ich vorgefunden habe, das sich bessernde Wetter und das kühle Bier aus der Heimat lassen langsam gute Laune aufkommen. Morgen soll es nach Angermünde gehen. Eigentlich sind dafür zwei Etappen vorgesehen, ich will das aber gern an einem Tag schaffen. Da muss ich zeitig los, weshalb ich den Gaststättenbesuch nicht ausdehne, sondern mich bald (unter ständiger Beobachtung der Leute auf dem Theaterdach) in mein Quartier begebe.

Via Imperii - Gartz-Schwedt