Unterwegs auf dem Camino del Norte
Von A Calle de Ferreiros nach Santiago de Compostela

Tag 30 (Dienstag, 4.4.2023) von A Calle de Ferreiros nach Santiago de Compostela

Der Tag fing früh an. Ich habe nicht sonderlich gut geschlafen. Vielleicht war der Kaffee am Ende des recht guten Tagesmenüs (galicische Suppe, panierte Hühnerbrust mit Pommes, Eis) Schuld daran, vielleicht auch die weiche Matratze. Um halb fünf hat neben mir Kieran angefangen zu packen. Er wollte ja am Nachmittag seinen Flieger bekommen. Wir hatten zusam­men ausgerechnet, dass es etwa 25 km bis zum Flughafen sind, die er gut schaffen kann, wenn er zeitig aufbricht. Aber Kieran ist immer daran zu erkennen, dass ihm verrückte Alter­nativen einfallen. Und nun kam ihm die Idee, dass man ja ganz zeitig aufbrechen, sich in Santiago die Urkunde holen und dann mit dem Bus zum Flughafen fahren kann, wo er so etwa 14.30 Uhr sein muss. Diesen Plan wollte er nun umsetzen. Ob es geklappt hat, weiß ich nicht.

Also, bei Keiran war klar, warum der so früh aufbricht, nur nicht, warum er 4.45 Uhr, als er schon reisefertig da stand, seinen Wecker hat klingeln lassen und 1…2 Minuten später nochmal mit einer anderen Melodie. Nicht klar war mir, warum die Amerikanerin (ein junges Mädel aus Pennsylvania) und zwei Spanier (die ich abends nochmal in Santiago gesehen habe) aus meinem Schlafraum zu solch früher Stunde aufbrechen mussten. Da ist es noch drei Stunden dunkel! Der einzige verbliebener Mitbewohner schniefte derweil sein Taschen­tuch voll und gab dabei Trompetentöne ab, die er wahrscheinlich selbst gar nicht wahr­genommen hat, da er beim Rumlaufen, in der Gaststätte und später im Bett immer Kopfhörer auf dem Kopf und sein Smartphone mit irgendwelchen Filmen vor der Nase hatte.

Um halb sieben wurde mir das Trompetenkonzert lästig und ich habe auch eingepackt. Duschen fiel wie schon am Abend aus, weil nur kaltes Wasser kam. Dieses aber so reichlich, dass man beim Test, ob vielleicht doch nach einer Weile was Warmes aus der fest installier­ten Brause kommt, das ganze Bad unter Wasser gesetzt hat. Um sieben bin ich los und brauchte auch noch eine halbe Stunde die Smartphone-Taschenlampe, um den holprigen Weg auszuleuchten.

Kurz vor elf, nach vielleicht 12 km, hatte ich mich in O Pino in einer Bar niedergesetzt, um etwas gegen Nierenversagen zu tun. Da kommt plötzlich ein kahler Kopf in mein Blickfeld, der zu Thomas gehört. Der ist etwa zur gleichen Zeit wie ich aufgebrochen, allerdings in Arzua. Er ist also in der gleichen Zeit zehn Kilometer mehr gelaufen. Auch er hat noch was für die Nieren getan und dann sind wir zusammen los. Da er keine Eile hatte, hat er meinen Schleichgang übernommen, so dass wir miteinander schwatzen konnten. Er hat dabei gestanden, dass der Weg für ihn ganz anders gelaufen ist, als er gedacht hatte. Er wollte eigentlich nur seine Ruhe haben und dabei den Weg abarbeiten. Aber nach zwei Wochen hat er dann die Erfahrung gemacht, dass der Camino was anderes ist, als nur eine farbige Route auf der Landkarte; dass man hier ganz besondere Erfahrungen machen und interessante Leute kennenlernen kann. Nach einer Weile hat er es lieben gelernt, neue Bekanntschaften zu machen, die Lebensgeschichten bislang fremder Leute zu hören und abends Pilger wiederzutreffen, denen man unterwegs schon mal begegnet ist. Er hat nun schon ein paar Kilometer vorm Ziel gesagt, wie sehr er es bedauert, dass gleich Schluss ist, und dass er den Weg keinesfalls einfach so abhaken wird. Er wird ganz sicher noch einmal einen Camino laufen, vielleicht den Primitivo, vielleicht zusammen mit seiner Frau. Und er will beim nächsten Mal probieren, wie es denn so ist, in Herbergen zu übernachten, statt in Hotels. Der klassische Fall von „Pilgern macht süchtig“.

Auf dem Weg nach Santiago hinein haben wir uns an der Bar „Kilometer 15“ (vor der ein Markierungsstein mit der Angabe „16,5 km“ steht), nur einen Stempel in den Pilgerpass gedrückt und Durst und Hunger aufgespart, bis alle Hügel und Berge auf diesem Weg überwunden sind. Das war in Monte do Gozo der Fall, von wo aus es nur noch bergab geht. Dort ist eine riesige Herberge mit 500 Betten in 30 Baracken, allerdings in 4- oder 8-Bett-Zimmern. Die ist wohl nie ausgebucht, obwohl viele Baracken außer Betrieb genommen wurden, so dass man da vermutlich immer für 8 € ein Bett findet, wenn in Santiago alles voll ist. Man muss nur abends ein Stück laufen und den Berg hoch. Bei mir heißt die Herberge des Aussehens wegen immer „Kriegsgefangenenlager“, obwohl die Baracken von 1993 sehr komfortabel sind. Auf dem Gelände gibt es auch ein Schwimmbad, Gaststätten und ein paar Geschäfte, die aber alle (noch) zu hatten. Aber die schon geöffnete Gaststätte hat uns sehr angenehm überrascht. Von draußen sieht sie wie eine Kantine aus, aber drinnen ist sie mit allen möglichen alten Brauereigerätschaften, Biertanks, Rohren und so weiter dekoriert, dass es Spaß macht, dort (oder wie wir auf der Terrasse) zu sitzen. Wir haben uns als Stärkung für den restlichen 4-km-Weg jeder eine schöne Fleischpfanne mit Pommes und Paprika kommen lassen. Für galicische Verhältnisse mit 9 € etwas teuer, aber bei uns hätte man vermutlich das Doppelte bezahlt.

Vom Monte do Gozo geht es auf einer Fußgängerbrücke über die Autobahn in ein neues Stadtviertel, erst danach wird es zunehmend älter und historischer. Am Ortseingangsschild haben wir die unvermeidlichen Fotos geschossen und dann den langen Weg in die Altstadt unter die Füße genommen. An einigen Herbergen standen Schilder, dass Betten für 16-18 € frei sind. In diesem Jahr scheint es in der „Semana Santa“ nicht so schwer zu sein, unterzukommen. Wir sind direkt zum Platz vor der Kathedrale, wo wieder unvermeidliche Bilder gemacht wurden, wobei Thomas im Knien die richtige Position gefunden hat, um mich schlank und sportlich erscheinen zu lassen. (Danke!)

Es war schon ein erhebender Augenblick, vor der Kathedrale zu stehen und sich selbst auf die Schulter zu klopfen, dass man es wieder einmal geschafft hat. Ab dem zweiten Mal heult man zwar nicht mehr, aber ungerührt lässt es einen nicht. Wir haben noch eine Weile im Schatten genau gegenüber der Kathedrale gesessen und dem Trubel auf dem Platz zugeschaut, der längst nicht so groß war, wie ich ihn im vorigen Jahr im Juni oder September erlebt habe. Es fehlten auch die Heerscharen an Bustouristen mit bunten Pioniertüchern, was aber vielleicht auch an der Tageszeit lag. Wer eine anstrengende Pilgerreise mit dem Bus hinter sich hat, ruht nachmittags um fünf.

Thomas musste dann irgendwann los, um seinen vorab per Internet wegen Schulter­problemen gebuchten Physiotherapie-Termin wahrzunehmen. Ich bin noch einen Moment sitzen geblieben und prompt auf Paul aus Speyer getroffen, den ich seinerzeit bei Ernesto in der Herberge kennengelernt hat und der zu unserer zwischenzeitlich bestehenden Clique gehörte. Der musste mal wegen Beinproblemen eine Etappe überspringen, ist dann aber tapfer weitergelaufen. Er ist am Tag zuvor mit Alejandro hier angekommen und bleibt noch zwei Tage, während Alejandro zu Fuß nach Fisterra aufgebrochen ist. Von Paul habe ich erfahren, dass auch Antoine in der Stadt angekommen ist, aber ich habe den ganzen Abend vergeblich nach einer roten Jacke Ausschau gehalten.

Ich bin dann in meine Pension „Santa Cruz“ aufgebrochen. Fünf Minuten von der Kathedrale entfernt in einer kleinen, aber belebten und am Tage mit Kneipenstühlen vollgestellten Gasse. Die Haustür stand offen, im ersten Stock ist die Herberge mit etwa 6 Zimmern. Auf dem Flur steht ein Sofa, daneben ein gut mit Pilgerliteratur bestücktes Regal. An der Wand eine Telefonnummer, die man bei Ankunft anrufen soll. Über diese erfährt man den Code für die Schlüsselbox, in welcher der Zimmerschlüssel und der Code für die (nur in der Nacht geschlossene) Haustür ist. Im Zimmer, das ein großes Fenster zur Gasse hin hat, aus dem man den Kneipengästen auf der Straße in die Suppe spucken könnte, stehen zwei Doppel­stockbetten und ein kleiner Tisch mit Küchenutensilien (Wasserkocher, Tassen, Teebeutel). Jedes der vier Betten hat ringsum Vorhänge, die sehr gut Licht und Geräusche abhalten. Zwei Betten waren schon belegt, zum Glück hatte ein Mann, den ich nie zu sehen bekommen habe, ein oberes Bett gewählt, so dass ich unter ihm ein Rentnertaugliches Bett im Untergeschoss beziehen konnte. Das andere Doppelstockbett war mit einer Tschechin und Melissa vom Bodensee belegt. Beide sind unabhängig voneinander den Camino Portugues gelaufen, Melissa auf der spirituellen Variante, die nicht nur ein paar Klöster und Kirchen mehr aufweist, sondern landschaftlich sehr schön sein soll. Soweit ich weiß, ist da standardmäßig auch eine Bootsfahrt dabei, auf der Route, die Jakobs Gebeine auf dem Weg nach Padron genommen haben sollen.

Am Abend bin ich um halb acht zur recht gut besuchten Pilgermesse in die Kathedrale und danach zu jener Prozession, die um sieben begonnen hatte und immer noch durch die Straßen zog. Zwölf in weißen Gewändern gekleidete Personen mit roten Kapuzen trugen ein Kruzifix durch die Straßen. Jede mit einer Eisenstange in der Hand, auf die man ggf. die ganze Konstruktion hätte abstellen können. Mit diesen Stangen schlugen sie im Takt aufs Pflaster, was einen recht martialischen Klang ergab. Musikgruppen davor und dahinter taten das Übrige. Es gehörte nicht nur Kraft dazu, die schwere Konstruktion zu tragen, sondern auch viel Geschick, um das Kreuz durch die engen Gassen zu bugsieren, ohne gegen eine Laterne, ein Kneipenschild oder einen Balkon zu stoßen. Kraft und Geschick waren vor allem gefordert, als sich plötzlich zeigte, dass ein Kabel einen halben Meter zu tief hing. Da mussten die Männer (und Frauen?) das Gestell von den Schultern nehmen, die klobigen Tragestangen mit den Händen knapp über dem Boden halten und so unter dem Kabel hinweg tauchen.

Die Prozession war kaum an der Kathedrale angekommen, da startete um 22.30 Uhr am Franziskanerkloster die nächste. Dieses Mal war auf dem Tragegestell Jesus auf dem Ölberg dargestellt. Zwanzig Träger, die schwarz gekleidet und mit blauen Kapuzen ausgestattet waren, trugen das Gestell. Vorneweg liefen römische Soldaten und hinterher eine große Kapelle, bei der vor allem die Trommeln viel Verwendung fanden. Der Zug war bestimmt noch bis nach Mitternacht unterwegs, aber ich habe mich vorher abgesetzt und ins Bett begeben. Am Donnerstag, Freitag und Sonnabend wird es täglich mindestens zwei solche Umzüge geben. Davon werde ich dann erzählen, wenn ich wieder zuhause bin.

Camino del Norte - Tag 30