Tag 25 (So, 05.11.2023) Padrón - Santiago / 25,5 km
Schon um halb sechs ging in der urigen kommunalen Herberge von Padrón das Gewusel los. Ich weiß nicht, was manche Leute dazu treibt, noch im Dunkeln loszulaufen. Aber für viele war das der letzte Tag und vielleicht schon die Aufregung groß. Ich habe noch in aller Ruhe gefrühstückt und bin dann raus in den gerade wieder einsetzenden Regen. Den ganzen Tag über war es abwechselnd nass und trocken. Es gab ein paar heftige Schauer und für ein paar Minuten auch mal Sonnenschein.
Ich habe mich dieses Mal an den ausgeschilderten Weg gehalten, denn beim letzten Mal habe ich von O Faramello die Fernstraße genommen, um schnell nach Santiago zu kommen, weil ich am Nachmittag noch weiter nach Ferrol wollte, um von dort am nächsten Tag auf den Camino Inglés zu starten. An jenem Tag gehörte ich zugegebenermaßen auch zu den Früh­aufstehern, über die ich oben hergezogen bin.
Der Weg war im Wesentlichen gut zu laufen. Es ging viel über kleine, asphaltierte Straßen, manchmal über glatt gewalzte Waldwege und dann mal wieder auf felsigen Wegen, die zugleich als Bachbett dienten und einiges Balancieren von Stein zu Stein erforderten. Nur kurz vor Santiago war mal ein Stück nicht begehbar, aber da kam uns ein Einheimischer entgegen, der uns einen Umweg zeigte.
In Padrón führte der Weg noch eine ganze Weile durch enge Gassen, die sich im Zickzack um die meist hoch eingemauerten Grundstücke wanden. In einem der Dörfer war gerade Zeit für den Sonntagsgottesdienst, von dem ich noch ein Stück mitgenommen habe. Der war sogar mal mit Gesang, angeführt von einem Frauenchor. Es ist hier selten, dass im Gottesdienst gesungen wird. Ein Stück weiter war plötzlich Pferdegetrappel zu hören. Da zog ein Dutzend Reiter an mir vorbei, alle mit Hut und grünem Regenponcho. Später habe ich dann die Pferde vor und die Reiter in einer Nobelgaststätte gesehen. Da keiner Gepäck dabei hatte, waren es wohl keine Pilger zu Pferde, sondern einfach nur Pferdeliebhaber, die einen Ausflug gemacht haben.
Als der Weg mal nahe an der Fernstraße verlief und Regen im Anzug war, bin ich dem Wegweiser zu einer Cafeteria (so die etwas feinere Benennung einer Kneipe) an der Straße gefolgt und habe mir ein Bier und eine Suppe bestellt. Der Wirt winkte aber ab und sagte, dass es keine Suppe gibt. Dabei standen auf fast allen Tischen kleine Schälchen mit einer Kichererbsen-Suppe samt Fleisch, die ich als sehr lecker in Erinnerung hatte. Das Rätsel wurde aber schnell gelöst, denn auch ich habe ein solches Schälchen als Zugabe zu meinem Bier bekommen. Wie ich schon mal sagte: wenn man die richtige Kneipe erwischt hat, ist man nach drei Bieren satt. Ich habe es aber bei dem einen Bier belassen und bin raus in den Regen, denn ich wollte ja nun endlich mal ankommen.
Die hüfthohen Granitstelen mit der Jakobsmuschel, die alle 300…500 Meter am Wegesrand stehen, weisen nicht nur dem Pilger den Weg, sondern sagen ihm auch auf den Meter genau, wie weit er noch von seinem Ziel entfernt ist. Das ist so eine Art Countdown. Und wenn da endlich eine einstellige Kilometerangabe auftaucht, kommt wieder neuer Schwung in den schon ziemlich ausgelaugten Körper. Noch zweieinhalb Stunden - was ist das schon gemessen an der zurückgelegten Strecke!
Bei Kilometer 8 habe ich die vier portugiesischen Mädchen wiedergetroffen, mit denen ich am Tag zuvor in der gleichen Herberge war. Die haben kurz vor Padron, in Pontecesures übernachtet - dort, wo es wegen der Chemiefabrik so gestunken hat. Die waren ganz munter drauf und haben in Erwartung des nahen Zieles einen flotten Schritt vorgelegt. Später habe ich sie auf dem Platz vor der Kathedrale wiedergesehen, wo sie überglücklich Arm in Arm standen und sich vor der Kathedrale fotografieren ließen. Auch mich haben sie alle gedrückt. Das ist hier so üblich und wenn es sich um junge, hübsche Mädels handelt, lässt man sich das gern gefallen.
Aber bevor Santiago erreicht war, gab es bei Kilometer 5 nochmal einen ordentlichen Regenschauer. Kurz vor fünf war ich auf dem Platz vor der Kathedrale und ein paar Minuten später im Pilgerbüro, wo ich mir neben meiner obligatorischen „Compostela“ das Zertifikat für die gelaufenen Kilometer geholt habe. „634 km“ steht da drauf, mit dem Umweg über Fátima waren es bestimmt mehr als 650. Außerdem habe ich mir wieder einen kleinen Vorrat an Pilgerpässen zugelegt …
Nachdem nun alle Formalitäten erledigt waren, habe ich mich in meine 18€-Herberge begeben, die ich von unterwegs gebucht habe. Es ist das sehr ordentliche Hostel „km 0“, das auf der Hälfte zwischen Kathedrale und Pilgerbüro optimal gelegen ist. Hier kommen alle Pilger mindestens zweimal vorbei. Wenn man jemand wiedertreffen will, der hinter einem war, muss man sich nur vor die Tür des Hostels oder besser auf die Terrasse der gegenüber liegenden Gaststätte setzen und abwarten. Aber leider war das Wetter überhaupt nicht zum Draußensitzen geeignet.
Um 19.30 Uhr bin ich in die Kathedrale zum allabendlichen Pilgergottesdienst. Der war recht gut besucht, obwohl das große Weihrauchfass nicht zum Einsatz kam. Bestaunen konnte man indes den Vorsänger, der aus seinem sehr ordentlichen Resonanzkörper so viel Stimme herausholte, dass das ganze Kirchenschiff damit gefüllt war. Während des Gottesdienstes habe ich die beiden Bamberger herumschleichen sehen und danach habe ich Raoul, den „belgischen Koch“ und eine junge Belgierin, die in Padrón mit am Tisch saß, getroffen. Da es draußen noch immer oder schon wieder regnete, bin ich gleich danach in die Herberge, wo mich ein Abendessen aus dem Rucksack erwartete.
Am Abend habe ich im Hostel noch eine nette Bekanntschaft gemacht: Olga, eine große, stämmige, aber nicht dicke Kranführerin aus Kasachstan. Mitte fünfzig, mit blauen Haaren und hellgrünen Fingernägeln. Ihre Vorfahren waren Wolgadeutsche, die von Stalin nach Sibirien deportiert wurden und später in Kasachstan gesiedelt haben - das hatte ich ja vor zwei Tagen schon mal gehört. Sie kam mit ihrem russischen Mann nach der Wende nach Deutschland, ist aber nach zwei Jahren wieder zurück, weil sie hier nicht warm geworden ist. Vor drei Jahren hat sie sich von ihrem Mann getrennt („Dreißig Jahre sind genug!“) und ist mit ihrem jetzt 22jährigen Sohn wieder nach Deutschland. Der musste unbedingt mit, um ihm den Wehrdienst zu ersparen, denn sie war sich wie andere in ihrer Bekanntschaft sicher, „dass Putin was vorhat“. Ein Klassenkamerad des Sohnes war zwischenzeitlich beim Militär und in der Ukraine im Einsatz. Durch das, was er da gesehen und erlebt hat, ist er psychisch völlig zerstört und drogenabhängig geworden.
Olga hat als Kranführerin in Deutschland keine Arbeit gefunden, denn solche Kräne, die sie mit vielen Hebeln bedienen kann, gibt es hier nicht mehr. Heute wird mit dem Joystick gesteuert und das kann sie nicht. Also hat sie sich dem Pilgern zugewandt und schon so ziemlich alle allgemein bekannten Wege absolviert. Aktuell ist sie von Bielefeld, wo sie wohnt, über Köln, Aachen, Reims und Vezelay nach Saint-Jean-Pied-de-Port, von dort nach Bayonne und auf dem Camino del Norte nach Santiago. Zurück will sie mit einem Bekannten im Auto nach Oviedo, von dort auf dem Camino del Norte rückwärts bis Bayonne und dann per Anhalter nach Hause. Sie hat ein Zelt dabei, hat aber vor allem auf Wegen durch Zentralspanien, wo es kaum Herbergen gibt, schon oft bei Privatleuten im Haus oder auf dem Grundstück geschlafen. Sie ist einfach sympathisch, weshalb man sie trotz ihres bunten Aussehens gern aufnimmt. Das war wieder eine der netten Bekanntschaften, die man auf dem Camino macht.

Camino Portugues Central - Tag 25