Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Santa Mariña nach Negreira

Tag 40 (Mo, 6.6.2022) – Von Santa Mariña nach Negreira

Ich hab sehr gut geschlafen und bin nur zweimal zum Abhusten auf den Flur, um die anderen nicht zu wecken. Der Schlafsaal mit 24 Betten, von denen genau die Hälfte leer geblieben ist, hatte sogar mal eine Tür, die man geräuschlos schließen konnte. Allerdings hat man es hier wie vielerorts mit den Bewegungsmeldern übertrieben. Kaum hat man leise die Tür zum Flur geöffnet, steht man im gleißenden Scheinwerferlicht, das in dem Moment auch in den Schlafsaal dringt. Besonders schlimm war das in der noblen Neubauherberge in Dumbria, wo der Flur eh die ganze Nacht ganz gut beleuchtet war. Wenn man da aus dem Raum getreten ist, ging im Flur die volle Beleuchtung an, so das man geblendet zu den Toiletten getorkelt ist - wegen der vom Architekten vorgesehenen großflächigen Verglasung für jeden draußen Vorbeigehenden sichtbar. Zum Glück hat sich noch nicht rumgesprochen, das hier jeden Abend in der Herberge Peep-Show ist. Irgendwo waren in einer Herberge die Bewegungs­melder auf dem Klo so eingestellt, dass man vor dem Abreißen des nächsten Blattes Klopapier erst eine Weile rumhampeln musste, damit das Licht wieder angeht.

Einen Pilger habe ich heute früh beim Loslaufen um 5.20 Uhr nur dadurch mitbekommen, dass beim Öffnen der Tür ins Freie dort ein kräftiger Halogenscheinwerfer anging. Der Rest hat bis etwa viertel sieben geschlafen - völlig ok, weil ja erst um sieben die Sonne aufgeht. Als neben mir die Bensheimer zu packen anfingen, bin ich auch raus. Die waren allerdings beim Rucksackpacken viel geübter als ich und hatten schon den ersten Kaffee getrunken, als ich oben in der Bar ankam. Da man sich hier mal sein Frühstück selbst zusammenstellen konnte, statt einen Teller Süßkram hingestellt zu bekommen, habe ich mich zu den Beiden gesellt und mir was zum Essen ausgesucht: Brot, Margarine, 2 Eier und einen Café von Leche für 3,20 € - das ist ok.

Viel Lust, vor die Tür zu treten, hatte ich nicht, denn draußen regnete es ziemlich heftig. Aber erst für 10 Uhr war Besserung angesagt, die jetzt, kurz nach 12 Uhr noch auf sich warten lässt. Mit dem Poncho über Mensch und Gepäck bin ich losgezogen. Wieder als Einziger in Richtung Santiago. Entgegen kamen mir einige, die allesamt sehr freundlich grüßten. Bei diesem miesen Wetter versucht jeder, den anderen aufzumuntern.

Jetzt habe ich in Vilaserio, in der ersten Herberge, die nach 9 km kam, was gegessen, eine Plato Combinados: Pommes, zwei Spiegeleier und vier Schweinefilets für 7,50 €. Sowas kann man sich schon gelegentlich mal leisten. Die Salchichons (Salami vom iberischen Schwein), die ich noch vom Abendbrot im Dumbria im Gepäck habe, eignet sich nicht sonderlich dafür, einfach so zwischendurch gegessen zu werden, denn die ist dafür zu salzig und zu kräftig im Geschmack. Empfohlen wird diese Wurt zu Hartkäse, aber davon habe ich leider nichts dabei.

Nun habe ich mich im Nieselregen zur nächsten Raststätte geschleppt, der Herberge Alta da Peña. Hier ließe es sich bestimmt auch gut übernachten, dann wären es aber morgen, am letzten Tag über 30 km bis Santiago. Also mache ich hier nur Rast zu einem erfrischenden Getränk. Der Wirt hat mich gleich erkannt, denn ich hatte vor genau einer Woche auf dem Weg nach Fisterra schon mal gerastet. Da kaum einer den Weg hin und auch wieder zurück läuft, passiert es sicher selten, dass er Pilger zweimal sieht.

Da das Zurücklaufen selten ist, ist der Weg in Richtung Santiago auch nicht ausgezeichnet. Manchmal hat sich jemand erbarmt und einen gelben Pfeil mit „S“ oder „SC“ (Santiago de Compostela) auf die Erde gemalt. Aber beim Aufstellen der Kilometersteine in Richtung Fisterra hat man sich was gedacht und diese an Wegkreuzungen und -gabelungen so aufgestellt, dass man genau darauf zu läuft, wenn man in der „richtigen“ Richtung unterwegs ist. Wenn man aus der „falschen“ Richtung auf einen Abzweig trifft, muss man sich also nur den Weg suchen, von dem aus man genau auf die beschriftete Seite des Kilometersteins zuläuft. Das klappt recht gut, zur Not gibt es aber auch die heruntergeladenen Karten, auf denen der Camino eingezeichnet ist. Da muss man nur in den verwinkelten Dörfern auf­passen, denn da ist „geradeaus“ manchmal auch „scharf links und dann wieder rechts“. Wenn man da aus der Kneipe (oder Kirche, falls geöffnet) stürzt und ohne zu schauen losrennt, gelangt man zwar nicht unbedingt auf die schiefe Bahn, aber leicht auf den falschen Weg.

Das ist mir gestern passiert. Ich habe den Irrtum erst am nächsten Kilometerstein bemerkt, den ein grüner Wandersmann und nicht die gelbe Muschel auf blauem Grund zierte. Zurück laufen wollte ich nicht. Stattdessen bin ich auf einem kleinen Umweg durch ein abseits gelegenes Dorf ein Stück weiter wieder auf den Weg gestoßen. Das war insofern interessant, als ein Dorf abseits des Camino doch etwas anders als eines am Camino aussieht. Hier gibt es kein Geld für Fußwege und Mäuerchen entlang der Straße. Das Dorf besteht offenbar aus lauter kleinen Landwirtschaftsbetrieben, was einerseits erfreulich ist, aber andererseits nicht unbedingt dem optischen Eindruck zuträglich ist.

In solch einem Dorf, in das nur selten mal ein Fremder kommt, lassen die Hunde diesem viel mehr Aufmerksamkeit zukommen, als am Camino, wo sie (die Hunde) meist gelangweilt herumliegen. Hier kam mir ein wirklich hübscher blonder Schäferhund stürmisch entgegen und ließ seine Vorderpfoten auf meiner Schulter nieder. Nur mühsam konnte ich mich eines Kusses erwehren. Erst nach dem dritten Versuch hat er oder (viel wahrscheinlicher) sie geschnallt, dass ich nicht geküsst werden will und ist davongetrottet. Der nächste Hund, der durchaus bei Rotkäppchen als Wolf durchgehen würde, hatte zum Glück keine Lust zum Küssen. Der hätte mir eine Vorderpfote auf die Schulter legen können, ohne die andere vom Boden zu heben.

Zu meinem Beitrag von Gestern muss ich noch eine Korrektur anbringen. Mein Freund Jörg, der offenbar genau meine Route verfolgt, hat mich darauf hingewiesen, dass das vermeintliche Kraftwerk nahe Dumbría eine Metallhütte ist. Danke. Für ein Kraftwerk wären die Schlote und Kühltürme wirklich etwas klein. Nun muss ich zuhause mal googeln, welche Erze hier verarbeitet werden und wo sie herkommen. Vielleicht hat das aber Jörg bis dahin herausbekommen.

Der Strom in den Freileitungen fließt also nicht vom Werk weg, sondern zu diesem hin. Das sieht man ihm aber nicht an. Freileitungen sind hier eh ein Thema, das mich ärgern kann. Hier führen so viele Strom-und Telefonkabel an Masten durch die Landschaft, dass man beim Fotografieren stets zu tun hat, eine Stelle zu finden, wo möglichst wenige Strippen das Fotomotiv verdecken. Der Strom, der hier durch die Gegend fließt, stammt wohl vornehmlich von den vielen Windrädern, die man aber nicht wie bei uns in der Landschaft verteilt, sondern in Gruppen auf Bergkuppen oder in Reihen auf den Bergkämmen aufstellt. Wind ist hier vermutlich ein viel sicherer Energielieferant als die Sonne, weshalb ich hier mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen keine Solaranlagen auf Dächern, geschweige denn Solarfelder gesehen habe.

Heute bin ich mal im ersten Haus am Platze abgestiegen, zumindest geografisch gesehen. Negreira, wo ich schon mal vor einer guten Woche auf dem Hinweg Nach Fisterra genächtigt habe, ist nun mein letzter Stopp auf dem Rückweg nach Santiago. Die Herberge, die ich damals im Vorort Chancela hatte, war gut. Ein 8-Mann-Zimmer, eine gemütliche kleine Kneipe im Haus und ein kleines Schwimmbecken im Garten. Da wäre vermutlich auch heute was frei gewesen, aber wenn kein wichtiger Grund dagegen spricht, nehme ich gern beim zweiten Stopp im gleichen Ort eine andere Unterkunft.

Meine heutige Herberge ist gleich die erste Gastwirtschaft, auf die man trifft, wenn man durch das Stadttor und entlang der mittelalterlichen Shopping-Meile an der Stadtmauer ins Zentrum kommt. Sie liegt an einer tagsüber recht belebten Kreuzung, ich hoffe das wird nachts ruhiger. Im ersten Stock ist eine Herberge mit insgesamt 30 Betten in zwei Räumen. Als ich ankam, waren davon 7 belegt. So bin ich zu einem Bett im Unterdeck gekommen. Die Sanitäranlagen sind ok und der Aufenthaltsraum mit Mikrowelle und Kühlschrank ist brauch­bar. Ich darf bloß nicht den ganzen Abend in der Sofaecke sitzen bleiben, sonst rieche ich nach historischem Möbellager.

Apropos riechen: irgendjemand, ich glaube Romana, hat mir erzählt, dass ihr für die lädierten Füße „Wick VapoRub“ empfohlen wurde, weil das die Poren öffnet. Als ich vorhin ins Zimmer kam, roch es danach und tatsächlich hat im Nachbarbett einer seine Füße damit eingerieben. Wenn ich etwas gegen meinen Husten und Schnupfen tun will, muss ich mich nur so legen, dass ich mit meiner Nase möglichst dicht an seinen Füßen bin. Normalerweise ist das nicht mein Bestreben.

Ich war vorhin in der Apotheke, um mir was gegen die Erkältung zu holen. Dabei habe ich an irgendwelche Tütchen zum Einrühren gedacht. Der Apotheker kam erst mit einer Riesenflasche, die vermutlich fürs Badewasser gedacht war, und als ich abwinkte, mit teuren Tabletten. Da habe ich doch lieber im Supermarkt ein Tütchen zuckerfreie Menthol-Bonbons in den Korb gelegt. Nun halte ich die zwei Tage auch noch aus, bis ich zuhause bin und Zugriff auf alle Hausmittel und pharmazeutischen Produkte habe. Ich sollte nur aufpassen, dass ich nicht gerade beim Einchecken auf dem Flughafen so laut belle.

Ich habe nach meinem Abendessen noch einen kleinen Stadtrundgang gemacht, aber die dafür veranschlagte Viertelstunde war sehr reichlich bemessen. Die Innenstadt besteht aus lauter 4…5-Geschossern, die ich den 60er Jahren zuordnen würde. Eine schöne Fassade zu finden, scheint mir unmöglich. Kneipen gibt es reichlich, aber wie die hier im Haus sehen sie alle wie Kantinen aus. Ich habe nicht eine gefunden, in die ich mich gern reingesetzt hätte. Etwas Kirchen-Ähnliches habe ich hier gar nicht entdeckt, die Karte weist auch nur einen Tempel der Zeugen Jehovas aus.

Morgen werde ich mal nicht so spät losziehen und weniger Pausen machen als heute, damit ich am frühen Machmittag in Santiago ankomme. Ich werde da wohl kaum noch auf Bekannte treffen, aber ich hoffe, dass ich dann mal ohne allzu viel Trubel durch die Stadt spazieren kann. Absteigen werde ich (entgegen meiner o. g. Grundsätze) vermutlich wieder da, wo ich beim letzten Mal die zwei Nächte war. Die Herberge liegt dicht am Busbahnhof, von wo aus ich gut zum Flughafen komme. Außerdem gönne ich dem Wirt, der letztens so hilfsbereit war, den Umsatz.

Hier ist es zwar noch taghell, aber ich werde mich trotzdem schon mal ins Bett begeben, denn mein Nachbar mit den hustenlösend duftenden Füßen hat sich bereits hingelegt.

Camino Francés / Finisterre - Tag 40