Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Negreira nach Santiago de Compostela

Tag 41 (Di, 7.6.2022) – Von Negreira nach Santiago de Compostela

15.15 Uhr. Ich bin wieder gut in Santiago angekommen und sitze in der Bar Carretas gleich neben dem Pilgerbüro bei einem (wie ich meine, verdienten) Cerveza Grande. Ich glaube, es gibt auch für den Camino Fisterra, den ich jetzt noch gelaufen bin, einen Orden oder zumindest eine Urkunde. Ich habe mich im Pilgerbüro online registriert, d. h. einen QR-Code gescannt, ein deutsches Formular mit spanischen Menüs ausgefüllt, eine Nummer gezogen und mich damit in die besagte Bar begeben. Es waren noch gut 150 Nummern vor mir, da reicht die Zeit, ein Getränk zu konsumieren. Zum Glück hat das Pilgerbüro eine Webseite, auf der man sehen kann, welche Nummer gerade dran ist. Da muss man nicht laufend rausrennen, um dort auf dem Bildschirm nachzuschauen, was der Zähler zeigt. Jetzt sind noch 115 vor mir, ich befürchte, dass ich noch ein zweites Getränk nehmen muss, um nicht wegen Untätigkeit aus der Bar zu fliegen.

Die Gaststätten haben hier alle recht guten Zulauf. Die meisten Leute sitzen draußen unter Sonnenschirmen, ich setze mich aber immer lieber rein ins Kühle. Ich habe gerade dem Kellner das Problem deutlich gemacht, dass ich noch 100 Nummern überbrücken muss und prompt hat er nachgefüllt. Um ehrlich zu sein, bestelle ich ja Bier immer nur der Häppchen wegen, die da mitgeliefert werden. Vorhin waren es halbe kleine Kartoffeln mit ziemlich scharfer Soße, jetzt ist es ein leckerer Thunfisch-Salat. Es würde mich schon interessieren, was die noch so alles an Beilagen zu bieten haben, aber ich muss ja noch ins Pilgerbüro und dort aussagefähig sein. Dass ich in meinem Pilgerpass mehr Kneipen- als Kirchenstempel habe, liegt wirklich nur daran, dass es hier kaum Kirchen gibt und die paar wenigen geschlossen sind. Ich glaube, auf der 200-km-Tour zur Küste waren es nur drei offene Kirchen: Cee, Fisterra und Muxia.

Nun ist es also geschafft. Das Bonusprogramm Santiago-Fisterra-Muxia-Santiago war sehr schön, aber nach dem langen Weg nach Santiago doch recht anstrengend. Es hat sich jedoch gelohnt. Vieles war anders und schöner, als auf dem Camino Francés. Es waren weit weniger Leute unterwegs, es ging viel gelassener zu, als auf dem Herweg, wo die vielen Hektiker, Pessimisten und Alles-voraus-Bucher die Laune verderben konnten, und man stand ja auch nicht mehr unter dem Druck, irgendwas schaffen zu müssen/zu wollen. Da sieht man alles viel gelassener. Man könnte jederzeit in den Bus steigen oder ein Taxi rufen, denn das, was man schaffen wollte, hat man ja schon geschafft. Das ist jetzt Bonus. Dass ich den auch noch gut überstanden habe, freut mich sehr und setzt der Tour das I-Tüpfelchen auf. Jetzt waren es insgesamt 1000 km. Und immer noch blasenfrei! Ich hoffe, dass ich mir nicht morgen im Flieger noch eine zuziehe.

Heute war es schon viel erträglicher in Santiago, als vor gut einer Woche. Es sind nur halb so viele Leute in der Stadt und die Sonne brennt nicht so erbarmungslos vom Himmel. Im Pilgerzentrum wurde gerade die 650 aufgerufen, als ich gegen 15 Uhr ankam, am Sonnabend nach Himmelfahrt stand etwa zur gleichen Zeit der Zähler bei 1250. Auf dem Platz vor der Kathedrale war auch heute viel los, aber kein Vergleich! Ich habe meinen Rucksack an einer Säule platziert und mich, diesen als Kopfkissen nutzend, lang ausgestreckt. Das war einfach schön und ich glaube, dass ich sogar eine halbe Stunde geschlafen habe. Beim Hinlegen habe ich nur leider nicht ans Aufsteigen gedacht, aber ein kräftiger italienischer Radler war mir dabei behilflich.

Im Gepäck habe ich jetzt ein weiteres Urkundenpaar: die lateinische „Compostela“ die bezeugt, dass man in Santiago angekommen ist und mindestens 100 km gelaufen ist, bekommt man gratis. Eine ähnliche spanische Urkunde, die auch noch besagt, von wo aus man gelaufen ist und wie lang der Weg war, kostet 3 €. Beides habe ich nun doppelt, noch dazu je eine Urkunde, die ich in Fisterra und Muxia nach strenger Kontrolle des Pilgerpasses bekommen habe. Damit könnte man ein ganzes Traditionskabinett dekorieren.

In der Stadt habe ich einige Andenkenläden mit wirklich schönen Souvenirs gesehen und ich habe überlegt, ob ich mir oder anderen was mitnehme. Aber abgesehen davon, dass bei uns die Kühlschrankmagneten immer von der Holztür runterfallen, brauche ich kein physisches Andenken an diese Pilgertour. Die hat sich fest im Gedächtnis eingebrannt und ich werde mich bei vielen Gelegenheiten daran erinnern. Und was sollen andere mit einem Mitbringsel anfangen, zu dem sie selbst keinen Bezug haben? Zum Einstauben in die Schrankwand stellen? Ich besitze einige Bücher und Kalender zum Jakobsweg und habe da durchaus interessiert drin geblättert. Aber richtig bewegen werden die mich erst jetzt, nachdem ich da überall selbst mit seinen Füßen gewesen bin. Mein Bruder Theo hat mir ganz zum Anfang ein Bild geschickt mit einem Spruch von Goethe: „Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du auch wirklich gewesen.“ Ich glaube, das trifft die Sache. In einigen Orten im baskischen Teil des Camino sind wir vor vielen Jahren schon mal mit dem Auto gewesen. Aber jetzt, nachdem ich zu Fuß dort war, habe ich einen ganz anderen Bezug.

Ich danke Euch allen, dass Ihr beim Lesen meiner Berichte so tapfer durchgehalten habt. Ich konnte ja nur ansatzweise einen Eindruck von dem vermitteln, was man hier erlebt und empfindet. Ich muss zuhause anhand der Berichte, der vielen tausend Bilder, die ich gemacht habe und unter Zuhilfenahme einer Landkarte rekapitulieren, wo ich überall war und wo ich was erlebt habe. In den sechs Wochen habe ich so viele verschiedene Landschaften und Orte gesehen, die verschiedensten Quartiere kennen gelernt, unendlich viele Leute getroffen und so tolle Bekanntschaften gemacht, laut und leise vor mich hin geflucht und mit Tränen in den Augen die selten spektakuläre, aber fast ausnahmslos schöne Natur bewundert.

Jetzt freue ich mich erstmal auf zuhause, auf die lieben Freunde und Verwandten, die ich vermisst habe, auf ein richtig schönes Frühstück und auf eine Badewanne. Dann werde ich eine Weile zu tun haben, Notizen, Bilder und GPS-Tracks zu ordnen und spätestens dabei wird der Wunsch aufkommen, bald wieder auf den Camino zu gehen. Nicht den gleichen, dafür gibt es viel zu viele. Ob sich im Herbst nochmal die Gelegenheit ergibt? Vielleicht für den Camino Portugues, der ist nicht so lang? Und im nächsten Jahr eventuell der Camino del Norte entlang der Küste?

Ich hoffe sehr, dass meine Gesundheit und die Umstände es zu lassen, dem jetzt beendeten Camino noch ein paar weitere folgen zu lassen. „Pilgern macht süchtig“ behauptet ein einschlägigen Buches. Ich habe hier wie schon gesagt viele erlebt, die zum ersten Mal auf dem Camino sind, aber keinen einzigen, der gesagt hat, dass es sein letzter war!

Camino Francés / Finisterre - Tag 41