Unterwegs von Madrid nach Santiago de Compostela
Tag 28 (Di, 23.9.2025) - Von Outeiro nach Santiago de Compostela / 19,0 km
Heute ist der letzte Tag auf dieser Pilgertour. Es sind nur 16 km bis Santiago, da wird am Nachmittag noch Zeit sein, durch die Stadt zu streifen. Vielleicht treffe ich außer Marco, mit dem ich mich noch auf ein „Cerveza“, also ein Bier, verabreden werde, wieder ein paar andere bekannte Gesichter. Einmal ist mir da John aus Los Angeles in die Arme gelaufen, der ein halbes Jahr zuvor mit seiner Tochter wie ich auf dem Camino del Norte unterwegs war, und im letzten Jahr habe ich dort Jack, meinen früheren Chef aus San Francisco getroffen. Der hatte gerade mit seiner Frau den letzten Teil des Camino Francés absolviert.
Heute werde ich das zehnte und vermutlich das letzte Mal in Santiago ankommen. Ich habe zwar noch ein paar Caminos im Hinterkopf, aber keinen, der bis Santiago führt.
Als Unterkunft hatte ich mir wieder die Herberge „km 0“ auserkoren, welche ziemlich direkt neben dem Pilgerbüro liegt, wo man sich seine Compostela, also die Pilgerurkunde holen kann. Wenn man da vor der Tür sitzt, kommen alle vorbei, die gerade ihr Ziel erreicht haben und man kann da vom Leid gezeichnete und vor Freude strahlende Gesichter sehen. Aber diese Herberge war längst ausgebucht. Als Alternative hat man mir in der Nähe eine Unter­kunft angeboten, wo es Schlafboxen gibt, in die man am hinteren, schmalen Ende einsteigen muss. Die Dame an der Rezeption hat mir ein Bild geschickt und gleich dazu­geschrieben, dass dies nichts für Leute mit Klaustrophobie, also Platzangst ist. Nun leide ich zwar eher an Cenosillicaphobie, der Angst vor einem leeren Glas, aber solch eine Karnickelbuchte war mir doch nichts. Da kann ich mir auch auf dem Bahnhof ein Schließfach nehmen. Andere Her­bergen in der Innenstadt waren auch schon voll oder haben auf meine Anfrage nicht geantwortet. Da habe ich mich dazu durchgerungen, für die vermutlich letzte Übernachtung in Santiago ein Bett im „Seminario Menor“ zu nehmen, obwohl die Bewertungen nicht so gut ausfallen, weil da Vieles doch ziemlich runtergekommen ist. Für andere ist es aber ein Muss, dort zu übernachten. Es ist ein großes, stattliches Gebäude an einem schönen Park gelegen. In diesem ehemaligen Priesterseminar gibt es keine Doppelstockbetten, sondern nur Einzel­betten in Schlafsälen für bis zu 29 Personen. Da auf den Bildern neben jedem Bett eine Tür zu sehen ist, gab es da vielleicht mal Trennwände. Jetzt haben alle eine gemeinsame Intimsphäre.
Als ich dort gestern Abend buchen wollte, war nur noch ein Bett frei und das hat mir auch noch jemand während der Buchung weggeschnappt. Schade, denn jetzt hatte ich mich schon auf dieses Erlebnis gefreut. Um nicht wie vor drei Jahren auf Quartiersuche durch die Stadt zu irren, habe ich wieder im „Sixtos no Caminho“ gebucht, wo ich schon wiederholt war. Der Inhaber hat mich doch damals gerettet, als ich mich nach erfolgloser Nachfrage, auch bei ihm, in einer Bar für den bevorstehenden Marsch zum Massenquartier auf dem Monte Gozo stärken wollte. Er war auch in der Bar und hat kurzerhand alle angerufen, die bei ihm gebucht hatte und spät abends noch nicht gekommen waren. Und prompt fand sich jemand, der vergessen hatte, zu stornieren. So hatte ich mein Bett. Ich bin dem Wirt also zu Dank verpflichtet und kehre deshalb da immer wieder gern ein, obwohl ich ihn beim letzten Mal gar nicht selbst angetroffen habe und die nette kleine Hauskapelle der Herberge inzwischen zur Rumpelkammer umfunktioniert wurde. Auch lief im Fernseher nicht mehr das tolle Camino-Video, mit großartigen Drohnenaufnahmen, das ich 2022 so begeistert angeschaut habe. Aber sonst ist die relativ kleine Herberge sehr empfehlenswert: Schlaf­boxen mit dicken Vorhängen, Schließfächer, eine gut ausgestattete Küche in einem gemütlichen Aufenthaltsraum usw.
Es sind zwar ein paar Meter bis zur Kathedrale, aber dafür gibt es ganz in der Nähe einen Supermarkt. Früher war auch der Busbahnhof gleich nebenan, jetzt hat man den zur Eisenbahnstation verlegt. Da muss ich erstmal auskundschaften, wo die nächste Haltestelle des Flughafenbusses ist. Da mein Flieger nach Genf erst um 10.45 Uhr startet, habe ich morgen früh aber keine Eile und kann ich auch ein Stück laufen. Mein Flieger von Genf nach Berlin geht erst abends nach acht. Da habe ich also den ganzen Nachmittag Zeit, mir was anzuschauen. Um nicht wieder ziellos durch die Stadt zu laufen und dann wie schon zweimal in der gleichen Kirche von den gleichen Damen einen Kaffee zu bekommen, habe ich mal nach Sehenswürdigkeiten geschaut und ein paar gefunden, die mich interessieren würden. Ausgesucht habe ich mir jetzt das Wissenschaftsmuseum am Kernforschungszentrum CERN, dicht an der französischen Grenze. Das ist 5 km vom Flughafen entfernt, also gut fußläufig zu erreichen.
Der Weg war heute weder von der Länge, noch vom Höhenprofil eine große Heraus­forderung. Ich bin kurz vor acht aufgebrochen, da wurde es allmählich hell, Sonnenaufgang ist erst 8.20 Uhr. Das erste Stück des Weges bot einen schönen Blick auf die Berghänge beidseits des Rio Ulla, wo in dem Dörfern noch die Laternen und in den Häusern die Lichter brannten. In den Weinbergen am Wegesrand sammelten sich gerade die Erntehelfer, die vermutlich um acht loslegen sollten.
Es ging abwechselnd durch Wälder, vorbei an Feldern und durch viele kleine Dörfer. Auf Gaststätten trifft man hier trotzdem nur, wenn man auf der Karte und in den Seitenstraßen danach Ausschau hält, denn die finden sich doch eher nahe der Nationalstraße, als an dem parallel dazu verlaufenden Camino.
In der ersten Kneipe, in der ich einen ordentlichen Café con leche getrunken habe, bin ich auf die beiden Israeli getroffen, genauso in der Kneipe bei Kilometer 4,160, in der ich eingekehrt bin, um nicht völlig unterhopft in Santiago anzukommen. Wie ich da so mit meinem Bier sitze, kommt mir doch die Idee, dass man in einer Gaststätte doch auch essen könnte, zumal es hier sogar eine Karte gab. Ich habe mir da den größten Hamburger ausgesucht und für 4,50 € ein Riesending mit der üblichen Boulette, Schinken, Käse, Salat, Tomate, Zwiebel und einem Spiegelei mittendrin bekommen. Das hat erstmal gereicht.
Mein von Süden kommender Weg ist, so glaube ich, der einzige, auf dem man die Kathe­drale von Santiago schon früh zu sehen bekommt. Ein toller Anblick. Und wenn man dann auf den Platz vor der Kathedrale tritt, der nicht umsonst „Plaza do Obradoiro“ (Platz der Freude) heißt, dann überkommt einen auch beim zehnten Mal ein schaurig schönes Gefühl. Man kann sich noch so viel Mühe geben, das als nichts Außergewöhnliches anzusehen - das ist außergewöhnlich und ein tolles Erlebnis, unter so vielen gut gelaunten und stolzen Menschen zu stehen, die sich in die Arme fallen, endlos viele Bilder machen oder einfach nur geschafft auf der Erde liegen. Letzteres war heute wider Erwarten möglich, da die Sonne recht kräftig rausgekommen ist. Aber nachts war es dafür ordentlich kalt, nur sieben Grad. Da war mein 15-Grad-Schlafsack doch etwas überfordert. Mit angezogenem Pullover, dem Handtuch um die Nieren gewickelt, sowie der Windjacke oben drauf, ging es dann halbwegs. Das war übrigens eins der wenigen Male, dass ich überhaupt einen Schlafsack brauchte. In den Hostels und in einigen Herbergen gab es immer ein zweites Laken, mit dem man sich zudeckt und ggf. eine Decke rüber legt.
Je näher ich heute dem Ziel kam, desto häufiger konnte ich Leute sichten, die mit einem kleinen Beutelchen auf dem Rücken unterwegs sind und ihre Koffer Taxi fahren lassen. Ich habe sie mir alle gemerkt und werde sie beim Jüngsten Gericht verpetzen! Vielleicht nicht die Spanierin, die ich unlängst vergeblich versucht habe zu retten. Die lässt sich zwar einen riesigen Rollkoffer von Herberge zu Herberge fahren, aber was sie zusätzlich auf dem Rücken mit sich rumschleppt, unterscheidet sich nicht von meinem Rucksack.
Ich bin, nachdem ich mich kurz auf dem Platz vor der Kathedrale umgesehen habe, zum Pilgerbüro, um mir meine Urkunde (Compostela) abzuholen und dann habe ich mich mit einem Getränk aus dem Familia-Supermarkt an den Rand des Platzes in die Sonne gesetzt und das fröhliche Treiben beobachtet und genossen.
Nach einer Weile bin ich dann in meine Herberge gezogen und zum Einkaufen in den Supermarkt. Nach einem ersten Abendbrot (Spaghetti Carbonara aus der Mikrowelle) bin ich zur Kathedrale, wo mittags um zwölf und abends um halb acht Pilgergottesdienst ist. Da ich auf dem Weg dorthin noch erkundet habe, wo und wann morgen mein Bus zum Flughafen fährt, war ich spät dran. Da war schon jemand dabei, wie vor der Abendmesse üblich, die Herkunftsländer und Startorte der heute eingetroffenen Pilger zu verlesen. Da war auch ein Deutscher bei, der in Madrid gestartet ist - man hat mich also nicht unterschlagen.
Die Kirche war brechend voll, es waren nicht nur alle Sitzplätze belegt, sondern an den Säulen und Wänden lehnten oder hockten Leute. Das waren insgesamt weit mehr als tausend. Ich habe mich recht weit vorn neben eine Sitzreihe gestellt und irgendwann mitbe­kommen, dass da die oben erwähnte Spanierin sitzt. Dass die heute in Santiago ankommen wird, war abzusehen, aber dass ich in der Kirche so dicht auf sie treffen werde, war schon ein toller Zufall. Manche meinen, dass solche Zufälle (nur) auf dem Camino üblich sind.
Als gegen Ende der Pilgermesse acht in roten Kutten gekleidete Herren sich durchs Kirchenschiff zum Altar vor arbeiteten, wusste ich was kommt und habe ich mich schnell noch drei Reihen nach vorn bewegt. Der Botafumeiro, das heißt das zentnerschwere Weihrauchfass, sollte zum Einsatz kommen. Das ist eigentlich nur bei bestimmten Festen der Fall, oder wenn jemand hinreichend viel gespendet hat. Es wird gemunkelt, dass 450 € zu zahlen sind, wenn man das Weihrauchfass durch die Kirche „fliegen“ sehen will. Aber warum sollen sich da zweimal täglich acht Männer unbezahlt abrackern, um die Leute zu belustigen, die den Klingelbeutel unbeachtet an sich vorbeischweben lassen?
Egal, wer wieviel gespendet hat. Die Männer an den Seilen haben ihr Bestes gegeben und dem Weihrauchfass ordentlich Schwung verliehen. Der Herr an der Orgel hat auch alles aus dem Instrument rausgeholt, was rauszuholen war. Bei den weit ins Kirchenschiff hinein ragenden Pfeifen habe ich immer Angst, dass sich eine aus der Halterung löst und wie ein Geschoss über die Köpfe hinwegfliegt, wenn der Organist so auf die Tasten haut.
Nach der Pilgermesse bildete sich noch eine lange Schlange derer, die unter dem Altar am Apostelgrab und hinter dem Altar an Santiagos Rücken vorbeiziehen und ihn umarmen wollten. Beides habe ich schon irgendwann mal zelebriert und deshalb jetzt ausfallen lassen. Bei der Umarmung des Apostels führt übrigens immer jemand von der Security Aufsicht, damit niemand einen der dicken Klunker von dessen Gewand mitgehen lässt.
Derlei Erinnerungsstücke brauche ich nicht, denn auch von dieser Pilgertour wird viel in Erinnerung bleiben. Es waren vier Wochen mit ganz verschiedenen Eindrücken: die hohen Berge gleich hinter Madrid, dann die Meseta, die verbrannten Wälder hinter Ponferrada und schließlich das satte Grün in den galicischen Bergen. Außerdem bleiben Erinnerungen an die gemachten Bekanntschaften, allen voran die Italiener Sandro und Margit, aber auch der Koreaner Koo, Marco aus Florenz, der sich nicht nochmal gemeldet hat, Margarita aus Portugal und die namentlich nicht bekannte Spanierin, die sich im Zimmer eingesperrt hat und in der Kirche wieder aufgetaucht ist.
Es war eine wunderschöne, interessante 750-km-Tour und ich hoffe, dass ich mit meinen Berichten nicht gelangweilt habe. Bis zum nächsten Mal!

Von Madrid nach Santiago de Compostela - Tag 28