Unterwegs auf dem Camino Primitivo von Oviedo nach Santiago de Compostela
Tag 1 (Mo, 2.9.2024) Oviedo - Escamplero / 12,6 km
6.15 Uhr. Ich sitze in Orly am Gate und warte auf meinen Vueling-Flug nach Oviedo (Asturias), der in einer Stunde gehen soll. In Oviedo will ich mich auf den Camino Primitivo nach Santiago de Compostela begeben. Wie man hört und liest, ist der Weg aber keines­wegs „primitiv“ im Sinne von „einfach“, sondern recht anspruchsvoll, da er durch das Asturische Gebirge führt und einige ordentliche An- und Abstiege enthält. Der Name „Primitivo“ besagt, dass dies der ursprüngliche bzw. älteste Pilgerweg nach Santiago ist. Gleich nach Bekanntwerden des vermeintlichen Jakobsgrab-Fundes am Anfang des 9. Jahrhunderts hat sich der Bischof von Oviedo auf diesen Weg begeben. Was der geschafft hat, sollte ich auch schaffen - auch wenn er vielleicht in einer Sänfte getragen wurde.

Bei diesem mit ca. 320 km relativ kurzen Pilgerweg besteht also die Herausforderung in den zu überwindenden Bergen. Die Herbergsdichte ist laut Pilger-App hingegen recht gut, so dass man die Etappen ziemlich frei wählen kann. Das ist erfreulich, denn da kann man (hoffentlich) bei einem anstrengenden Tag mal eine Etappe abkürzen. Die zur Verfügung stehende Zeit (18 Tage bis zum Rückflug) sollte hinreichend großzügig bemessen sein. Obwohl da reichlich Puffer enthalten ist, habe ich Abstand davon genommen, direkt am Flughafen Austurias bzw. im nahen Aviles (am Camino del Norte, wo ich schon mal genächtigt habe) loszulaufen. Ich werde stattdessen mit dem Flughafenbus ins ca. 30 km entfernte Oviedo fahren und dort, am offiziellen Startpunkt, nach einer Stadtbesichtigung loslegen. Den eingeplanten Puffer von 1…2 Tagen sollte man nicht gleich am Anfang aufbrauchen.

7.00 Uhr. Ich sitze schon im Flieger. Langsam gibt sich die Aufregung. Bis jetzt war alles pünktlich. Um 6.30 Uhr ging das Boarding los, 6.45 Uhr war der Bus am Flieger. Zehn Minuten später kam noch ein zweiter Bus mit Nachzüglern, dann ging die Tür zu. Jetzt (7.03 Uhr) rollen wir schon, obwohl als Startzeit 7.10 Uhr angegeben ist. Bei Vueling sollte man also die angegebene „Boarding Close“-Zeit (hier 6.50 Uhr) ernst nehmen.

Am vergangenen Donnerstag bin ich mit den Enkelinnen von Berlin nach Orly geflogen, um sie bei ihren Eltern abzuliefern. Auch da war der Flieger (fast) pünktlich. Der Transavia-Flug ging zwar 20 Minuten später los, kam aber zur angegebenen Zeit an. Zwei pünktliche Flieger hintereinander. Das ist schon was. Das Glück scheint auf meiner Seite zu seien.

Am Freitag und Sonnabend bin ich ein wenig durch die Gegend südlich von Paris gewandert. Natürlich auf dem Jakobsweg, genauer gesagt auf der Via Tourensis, die von Paris über Tours nach Saint-Jean-Pied-de-Port führt, wo der Camino Francés beginnt. Von Paris nach Chartres bin ich den Weg bei früheren Aufenthalten schon in Tagesetappen gelaufen. Dort weiter zu laufen schien mir wegen der langen Anfahrt zu aufwändig. Darum habe ich dieses Mal die nach Orleans führende Variante gewählt. Am Freitag bin ich mit dem RER über Massy-Palaiseau nach Lozère gefahren, wo sich die Via Tourensis gabelt, und von dort nach Arpajon gelaufen. Abends ging es mit dem Zug zurück nach Versailles. Am Sonnabend folgte dann das Stück von Arpajon nach Étampes. Das ist die Endstation des RER C. Von da kommt man alle halbe Stunde zurück. Wenn man nicht durch wiederholtes Umsteigen abkürzen will, ist das eine schöne Fahrt nach Paris und dann quer durch die Stadt, von der man leider nicht so viel sieht, weil es ja überwiegend durch Tunnel geht. Während der zurück liegenden Olympiade und jetzt, während der Paralympics, gilt für alle RER-Linien ein Einheitstarif von 6 €. Fahrten innerhalb der Stadt sind damit deutlich teurer als sonst, aber wenn man wie ich das Streckennetz voll auskostet, spart man vermutlich. Leider haben sie es nicht geschafft oder nicht gewollt, die Fahrkartenautomaten mit einer Schnellwahltaste für das Einheitsticket auszustatten. Man muss umständlich Start- und Zielort wählen und auf der von mir genutzten Strecke angeben, ob man über Massy-Palaiseau oder über S. Urbain fahren will. Der erste Ort wird aus Arpajon oder Étampes kommend gar nicht berührt und den zweiten Ort konnte ich nicht finden. Was nimmt man da? Später habe ich erfahren, dass mit „S. Urbain“ nicht ein nach dem heiligen Urban genannter Ort gemeint ist, sondern dass dies „secteur urbain“ heißt und bedeutet, dass der Zug durch den innerstädtischen Sektor von Paris fährt. Wieder was gelernt!

Am Sonntag war ich mit der Familie bei den Paralympics. Meine Tochter hatte Karten für die Schwimmwettbewerbe in der La Defense Arena besorgt. Diese üblicherweise für Rugby genutzte 25.000-Personen-Halle im Wolkenkratzer-Viertel La Defense hat man für die Olympiade und die Paralympics vorübergehend mit einem Schwimmbecken versehen. Hier hat man wie an anderen Stellen nicht gekleckert, sondern geklotzt. Die Halle war trotz der vergleichsweise frühen Stunde (Beginn 9.30 Uhr) recht ordentlich gefüllt und es war richtig gute Stimmung. Es waren zwar nur wenige Franzosen und Deutsche am Start, aber die wurden besonders lautstark beklatscht. Wir hatten vorsorglich je eine rot-weiß-blaue und eine schwarz-rot-goldene Fahne dabei, die man verkehrt gehalten auch für die Niederlande bzw. Belgien benutzen konnte. Das blaue Teil weggeklappt war die Trikolore sogar für Polen tauglich. Unser lautes Anfeuern war bestimmt auch ausschlaggebend dafür, dass bei der Qualifikation der Frauen mit Behinderungsklasse SM 4 beim „Individual Medley“ über 150 m die beiden ohne Beine startenden deutschen Schwimmerinnen auf Platz 2 und 3 hinter einer als „staatenlos“ angetretenen Russin gelandet sind. Beim Finale am Abend waren sie dann sogar auf den beiden ersten Plätzen. Glückwunsch. Es ist irre, was die ohne oder mit ver­krüppelten Gliedmaßen antretenden Sportler leisten. Bei den Männern lagen bei einem Wettbewerb zwei Australier vorn, die ohne Arme und Beine angetreten sind und sich nur durch kräftiges Krümmen und Strecken des Rumpfes durchs Wasser bewegt haben. Unglaublich.

Mein kleines Wehwehchen in Form eines schmerzenden Fußes ist dagegen lächerlich. Aus unerklärlichen Gründen tat mir gestern der schon halb abgestorbene linke Fuß weh - ein Schmerz, den ich von nächtlichen Krämpfen kenne: ein Gefühl, als ob jemand das Bein festhält und den Fuß verdreht. Wenn man damit läuft, ergibt das einen humpelnden Gang und ein Platschen bei jedem Schritt. Ich fand das gar nicht so schlimm, aber es muss übel ausgesehen haben, denn auf dem Weg zur Arena kam eine der vielen Freiwilligen auf mich zu und hat mir angeboten, einen Rollstuhl zu besorgen. Ich habe ihr nicht erzählt, dass ich noch gut dreihundert Kilometer durch die Berge vor mir habe …

Zum Glück hat sich der Schmerz im Fuß von allein oder Dank der aufgetragenen, kräftig riechenden Kampfer-Salbe aus der französischen Hausapotheke gelegt und ich kann wieder halbwegs normal laufen.

8.34 Uhr (statt 9.00 Uhr) Wir sind gelandet. Es ist trocken, aber völlig verhangen. Man muss hier laut Wetter-App heute und in den nächsten Tagen immer mit Regen rechnen. Kommt mir bekannt vor.

Auf dem überschaubaren Flughafen Asturias ging alles ganz schnell.

8.50 Uhr, also zehn Minuten vor der geplanten Landung, sitze ich schon im Flughafen-Bus, der mich für 9 € (beim Busfahrer mit Karte zu bezahlen) nach Oviedo bringen wird. Nebenan steht ein Bus, der über Aviles nach Gijon fährt. Hier kommt man also gut weg. Dank geschickt eingesetzter Ellenbogen habe ich im Flughafenbus einen Platz ganz vorn bekommen, so dass ich während der Fahrt alles gut sehen konnte. Allerdings ging es fast ausschließlich über die Autobahn, wo nur mal die Blicke in die überquerten Täler interessant waren. Getrübt wurde meine Freude über die Fahrt nur durch die Sorge, dass meine noch in Orly gefüllte Trinkflasche nicht ganz dicht ist. Die habe ich hier auf dem Flughafen in meinem Rucksack getan, damit ich die Hände frei habe. Und den Rucksack musste ich im Bus ins Gepäckfach legen. Beim Flug hat sich übrigens niemand für meinen mühevoll auf das Unter-dem-Sitz-Format 40x30x20 cm getrimmten Rucksack interessiert. Im nicht ganz vollen Flieger konnte ich den auch problemlos im Gepäckfach platzieren. Der Flug hat mit diesem kleinen Handgepäck nur 28 € gekostet - mit „richtigem“ Handgepäck wären es 45 € mehr gewesen. Also ordentlich gespart! Dieser frühe Flug hat es allerdings mit sich gebracht, dass mich jemand nach Orly bringen musste, weil man da so früh nicht mit öffentlichen Verkehrs­mitteln hinkommt. Meine Tochter hat sich erbarmt und mich gefahren. Danke.

9.50 Uhr. Nach etwa 40 Minuten Fahrzeit war der Bus in Oviedo. (Die Flasche war übrigens dicht.) Dort habe ich noch auf dem Busbahnhof meine erste Pilgerbekanntschaft gemacht: James aus Cambridge, der mit dem Flieger aus Barcelona gekommen ist. Zusammen sind wir zur Kathedrale, um uns unseren ersten Stempel zu holen. Man kann sich in der Kathedrale und am angeschlossenen Museum auch umsehen. Eigentlich bin ich auf Wanderungen kein Freund großartiger Museumsbesuche, aber da es für Pilger 50% Rabatt auf den etwas hoch angesetzten Eintrittspreis von 8 € gab und man die Kathedrale am Anfang der Tour vielleicht gesehen haben sollte, hab‘ ich mich da halbwegs gründlich umgesehen. Besonders sehenswert war hier das Altar-Retabel, d. h. die große Bilderwand hinter dem Altar. Im Audioguide war zu hören, das das Retabel 16 Meter hoch und 11 Meter breit ist und 23 plastische Darstellungen von Begebenheiten aus dem Leben Jesu zeigt, natürlich alles schön in Gold gefasst. Ganz unten rechts fand sich da außerdem St. Rochus, den die Stadt bei einer Pestepidemie erfolgreich um Hilfe angerufen hat. In einer Kapelle ist ihm sogar ein ganzer Altar gewidmet. Von den Leuten, die in der Kirche herumliefen, waren einige mit Rucksack und Jakobsmuschel ausgestattet. Ganz allein werde ich hier also nicht unterwegs sein. Ein deutscher Rucksackträger hat mich angesprochen, Stephan aus Reutlingen. Wir haben uns nach ein paar Fotos zusammen auf den Jakobsweg begeben, aber gleich wieder verloren, weil er noch zu einem Bäcker und ich was einkaufen wollte.

Leider hatte es zwischenzeitlich zu regnen angefangen. Ich hab‘s erst mit dem kleinen Anorak probiert, aber dann doch bald den Regenponcho rausgeholt. Um mich nicht auf der Straße umkleiden zu müssen, habe ich eine Gaststätte aufgesucht und gleich die Gelegenheit genutzt, um eine Tortilla und ein Kaltgetränk zu mir zu nehmen. Der ideale Start in einen Wandertag.

Bei dem Regen ist mir die Lust vergangen, noch lange durch die Stadt zu schleichen. Stattdessen habe ich mich gleich auf den Weg gemacht, der in Oviedo mit goldenen Muscheln auf dem Fußweg und diversen Schildern an den Laternen markiert ist. Dazu gibt es wie auf allen Camions gelbe Pfeile an Mauern und Hauswänden, so dass man sich eigentlich gar nicht verlaufen kann.

Außerhalb des Zentrums gab es wenig Sehenswertes, aber hinter den letzten Neubaublocks wurde es schön. Da führte der Weg durch eine Parkanlage und dann als Feld- bzw. Waldweg durch die hügelige Landschaft, wo sich immer wieder schöne Blicke auf kleine Siedlungen und von Hecken umgebene Felder boten. Bei Sonnenschein muss das sehr schön anzusehen sein, aber auch bei den tief hängenden Wolken gab es sehr reizvolle Bilder, wobei man diese fast gruselige Stimmung kaum in einem Foto festhalten kann.

Obwohl das Streckenprofil gar nicht verdächtig aussah und an der höchsten Stelle weniger als dreihundert Meter aufwies, ging der Weg doch ganzschön in die Knochen, da er stets auf und ab führte und an vielen Stellen über felsigen Grund verlief. Da kam man bergauf und bergab nur mühselig und langsam voran. Als ich viertel nach vier in Escamplero ankam, habe ich mich entschlossen, dort in der Herberge abzusteigen, statt noch weiter zu laufen. Bis Paladin, wo sich Stephan einquartiert hat, wären es noch acht Kilometer gewesen, wofür ich bei aktuellem Tempo wohl zweieinhalb Stunden gebraucht hätte. Dann wäre es fast um sieben gewesen. Da für morgen besseres Wetter angesagt ist, werde ich lieber zeitig aufbrechen und ein bisschen mehr laufen, als mich heute durch den Regen zu kämpfen.

Die Herberge in Escamplero ist zwar nicht sonderlich gemütlich, hat aber brauchbare Sanitäreinrichtungen mit heißem Wasser in der Dusche und eine kleine Küche, wenn auch mit spärlicher Ausstattung. Etwas gewöhnungsbedürftig sind die hier überwiegenden 3-Stock-Betten, bei denen man vermutlich auf allen Etagen schlecht schläft. Aber es gibt auch zwei normale Doppelstockbetten. Da vor mir nur eine ältere Polin, Theresa aus der Nähe von Krakau, in der Herberge war, habe ich davon sogar noch eins abbekommen. Zusammen sind wir zur Gaststätte am anderen Dorfende gelaufen, wo man sich laut einem Aushang in der Herberge anmelden und seine 6 € für die Übernachtung bezahlen soll. Als wir um halb sechs auf dem Rückweg am Dorfkonsum vorbei kamen, der um fünf wieder öffnen sollte, war dieser verschlossen. Ärgerlich, denn alle meine mit köstlicher Salzbutter geschmierten Stullen waren inzwischen aufgefuttert. Eine Stunde später war der Laden dann aber plötzlich auf. Das Angebot war allerdings sehr spärlich. Die Mini-Paella für die Mikrowelle erwies sich jedoch als recht brauchbar und für morgen früh habe ich ein halbes Baguette, zwei große Schinkenscheiben vom Stück und zwei Tütchen Kaffee erstanden. Das muss reichen.

Die Herberge hat sich zwischenzeitlich noch ganz schön gefüllt: ein junges und ein älteres spanisches Paar, vier allein reisende Herren, davon ein Italiener, und zum Schluss noch ein junges Mädel aus Südafrika, das sogar ein paar Brocken Deutsch spricht, weil ihr Opa Deutscher war. Sie hat hier gerade mit am einzigen Herbergstisch gesessen und eine Unmenge Postkarten geschrieben, während ich mühselig im Adler-Such-System mit einem Finger meinen Bericht tippe. Von Stephan habe ich hier übrigens an der Tür einen an „Benedikt aus Berlin“ adressierten Zettel und seine Visitenkarte gefunden. Falls wir uns hier nicht mehr begegnen, wollen wir uns mal in der Heimat treffen. Seine Firma hat ein Büro in Berlin, wo er wohl immer mal ist. Für ihn ist das der erste Camino, da wär es ihm vielleicht recht gewesen, Begleitung zu haben. Ich hätte mal mit zum Bäcker gehen sollen.

20.00 Uhr. Meine Mitbewohner haben inzwischen auch alle im Dorfkonsum erworbenen Lebensmittel, vielfach nur eine Banane, verzehrt und die ersten haben sich ins Bett begeben. Das werde ich nun auch bald machen, damit ich nicht im Dunkeln rumstolpern muss und alle wecke. Internet gibt es hier nicht, weshalb ich nicht viele Bilder verschicken werde.

Camino Primitivo - Tag 1