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Unterwegs auf der Variante Espiritual des Camino Portugues von Vigo nach Santiago |
Tag 5 (Mi, 18.9.2024) Padron - Santiago de Compostela / 26,0 km
Den letzten Tag auf dem Jakobsweg kann man als „Tag der Begegnungen“ bezeichnet. Ich habe überhaupt nicht erwartet, Bekannte zu treffen, außer vielleicht jene, mit denen ich die letzten drei Tage auf der „Variante Espiritual“ war. Und irgendwie war mir auch gar nicht nach viel Reden.
Ab Padron waren reichlich Pilger auf den letzten 25 Kilometern nach Santiago, meist in kleinen Grüppchen. Da hat man laufend jemand vor oder hinter sich gehabt und genug Gespräche mithören können. Da habe ich mich regelrecht danach gesehnt, in Ruhe meinen Weg laufen zu können. Darum bin ich auch nicht Andrea aus Florida hinterher geeilt, als sie plötzlich vor mir auftauchte. Mein Englisch ist eh nicht so gut, dass ich tiefschürfende Gespräche führen könnte und das übliche „Wohin?“ und „Woher?“ hatten wir ja schon ausgetauscht. Neben Unmengen älterer Amerikaner waren auch einige Deutsche unterwegs, mit denen ich immer mal ein Wort gewechselt habe. Zum Beispiel habe ich mit einem jungen Paar über die merkwürdige Himmelsfärbung sinniert. Nachdem die Sonne um viertel zehn als feuerroter Ball über die Bergkette rechts vom Weg schaute, erschien der Himmel regelrecht zweigeteilt. Rechts war strahlend blauer Himmel und links war der Himmel dunkelgrau. Nicht, dass da dunkle Wolken hingen, der Himmel war durchgängig dunkel. Und zwischen beiden Hälften war ein gleitender Überhang. Meine Gesprächspartner haben spekuliert, ob das Dunkle von den angeblich in Portugal ausgebrochen Waldbränden herrührt, aber das glaube ich nicht. In A Escravitude, wo ich die Zeit für einen Morgenkaffee gekommen sah, kam mir jemand entgegen, den ich hier überhaupt nicht erwartet habe: Manu, die nette Schwarzhaarige mit der Ukulele im Rucksack, die mir auf dem Camino Primitivo ihr Zelt angeboten hat, als ich vor einer vollen Herberge stand. Sie war ein paar Tage in Santiago und läuft jetzt nach Fatima. Sie zu treffen, hat mich wirklich sehr gefreut. Kurz vor O Faramello, wo ich auch schon mal übernachtet habe, habe ich mich an einer Tankstelle mit Picknick-Zutaten eingedeckt, aber dann am Weg nirgendwo was zum Hinsetzen gefunden. Schließlich kam ein kurzes, aber steiles Wegstück über große Felsbrocken, an das ich mich noch gut erinnern konnte. Einer dieser Brocken gab einem hervorragenden Sitzplatz ab, von dem aus man alle schnaufend bergauf Ziehenden aus nächster Nähe sehen und die Schweißtropfen auf ihrer Stirn zählen konnte. Als ich mich da niederließ, habe ich aber nicht bedacht, dass dieser Aufstieg auch ein schönes Fotomotiv ist. Mich ärgert es ja auch immer, wenn da jemand vorm Denkmal steht und sich nicht wegrührt. Ich hab’s ja schon oft erlebt, dass da einer mit dem Alten Fritz oder mit Louis XIV Selfies gemacht hat und dann ohne einen Schritt beiseite zu treten die Aufnahmen sichtet und an die Verwandtschaft weiterleitet. Da möchte man manchmal mit einem Stein schmeißen, aber das wäre dann vielleicht ein Grund für eine weitere Selfie-Serie „Onkel Oskar mit Beule und der Alte Fritz ohne Beule“ oder so. Also, während ich da auf der Hälfte des Anstiegs sitze, sehe ich, wie unten ein Mädel in die Knie geht, um aus dieser Perspektive zu fotografieren. Da war ich jetzt mal richtig fies und habe weder mein Picknick abgebrochen, noch mich von der Stelle gerührt - praktisch als Rache für alle Vor-dem-Denkmal-Steher. Als das Mädel dann ran war, habe ich mich aber wenigstens entschuldigt. Da die junge Frau aus Schwerin stammt, haben wir uns schnell auf Deutsch als Konferenzsprache geeinigt. Sie erzählte, dass sie beim Wandern viel Landschaft fotografiert und daraus ein Fotobuch macht, aber auch Bilder bei Instagram einstellt. Sie fand es gut, dass da jemand am Weg sitzt, hat aber angeboten, mich raus zu schneiden (womit die Bilder sicher an Wert verloren hätten). Als ich ihr sagte, dass sie keine Angst vor meinen Anwälten haben muss, war sie beruhigt. Das Stück vor Santiago zieht sich immer ganz schön hin. Wenn die Kathedrale das erste Mal zu sehen ist, dann sind es noch etwa sechs Kilometer, also eineinhalb Stunden. Ich bin zum Schluss zwei Straßen früher abgebogen und gleich zum Pilgerbüro, um mir die Compostela (Nr. 9) abzuholen. Dort bin ich auf eine deutsche Pilgerbetreuerin gestoßen, die offenbar auf Interessenten für den täglichen Pilgertreff um 16 Uhr gewartet hat. Ich hab ihr die Freude gemacht und bin mit ins deutsche Büro und hab da ein bisschen erzählt und zugehört. Dabei habe ich erfahren, dass um 18 Uhr eine deutschsprachige Führung um und durch die Kathedrale stattfindet. Das hat mich interessiert. Nun also los, es war ja schon bald halb fünf. Zuvor musste ich nämlich unbedingt in die Herberge, weil ich inzwischen schon etwas aufdringlich roch. Da diese nicht weit weg war, habe ich den eigentlich als Nächstes geplanten Einkauf auf den Abend verschoben und bin nach einer kurzen Rast auf dem St. Rochus-Platz in die Herberge „Linares“, wo ich ein Bett reserviert hatte. Nach einer ausgiebigen Dusche stand nun noch das Abschiednehmen von meinen Wanderschuhen an, die mich mindestens auf drei langen Caminos (Norte, Portugues ab Lissabon, Primitivo) und diversen Pilgerwegen durch Ostdeutschland begleitet haben. Da schmerzt einem das Herz, denn in den Schuhen hat nie etwas geschmerzt. Aber inzwischen hatten sie durch die vielen Löcher und Risse doch etwas an Schick verloren. Da konnten auch die fast neuen Schnürsenkel nicht viel rausreißen. Da die Schuhe bei ebay nicht mehr viel gebracht hätten, habe ich mich entschlossen, ihnen in der letzten Herberge eine Ruhestätte zu geben - natürlich ohne die Schnürsenkel, denn die stammen aus Paris und haben noch keine 500 km hinter sich! Nach der kurzen, aber ergreifenden Abschiedszeremonie musste ich mich auch schon auf den Weg zum Nordportal der Kathedrale machen, wo Treffpunkt für die Führung war. Diese wurde von Waltraut, einer weiteren deutschsprachigen Pilgerbetreuerin, durchgeführt und drehte sich (wie angekündigt) weniger um die Architektur, als mehr um Sinn und Bedeutung der verschiedenen Portale und der dort stehenden Figuren, und darum, was der Architekt mit ihrer Anordnung zum Ausdruck bringen wollte. Das war manchen Teilnehmern zu fromm. Ein paar haben sich abgeseilt, aber etwa 15 haben das mit großem Interesse verfolgt. Zum Schluss ging es in den Kreuzgang, den man als normaler Kathedralenbesucher nicht zu sehen bekommt, weil man durch die Sakristei muss, um dorthin zu gelangen. Die Führung dauerte bis kurz vor halb acht, dem Beginn der allabendlichen Pilgermesse. Da waren schon alle Plätze belegt und es standen und hockten schon viele an den Säulen. Ich habe zum Glück noch einen halben Sitzplatz in einer Bank mit lauter dünnen Damen gefunden. Die Messe war relativ kurz, dieses Mal nicht vom Ortspfarrer, sondern von mehreren, vermutlich selbst als Pilger nach Santiago gekommenen Priestern gehalten. Da fehlte leider die Aufzählung der Länder, aus denen die am Tage angekommenen Pilger (insgesamt 2039) stammen. Der Botafumeiro, das heißt, das große Weihrauchfass an der Decke, das bei meinem letzten Besuch im April gänzlich fehlte, ist leider nicht geschwenkt worden. Das mitzuerleben ist immer Zufall. Es wird erzählt, dass das Fass nur geschwenkt wird, wenn jemand 300 € spendet. Das finde ich gar nicht verwerflich. Warum sollen für nichts und wieder nichts jeden Abend acht festlich gekleidete, kräftige Herren die Besucher bespaßen? Irgendwann hört ja auch die Freude am Ehrenamt auf. Als dann zum Schluss noch viele nach vorn zum Altar strömten, um dort Fotos zu machen (oder Selfies wie „Onkel Oskar mit Jakobus“), habe ich mich auch mit eingereiht, denn der Altar ist vielleicht ein bisschen kitschig geraten, aber mit seinem vielen Gold und Silber sehr eindrucksvoll. Da sehe ich doch beim Fotografieren schräg vor mir die Rückseite eines Herrn, die mir irgendwie bekannt vorkommt. Nicht sehr groß, aber mit breiten Schultern und einem auffallend breiten Nacken, auf dem ein Kopf mit gepflegtem Haarschnitt sitzt. Ich habe den Herrn zurück bis zu seinem Sitzplatz verfolgt und dort zur Rede gestellt. Da musste er sich umdrehen und ein kurzes, von ihm bejahtes „Jack?“ hat seine Identität geklärt: Einer der letzten Geschäftsführer und praktisch der Chef jener Firma, in der ich fast 25 Jahre war. Der kam alle paar Wochen, dann aber für einige Tage, aus San Francisco nach Berlin. Ich fand ihn zwar immer sympathisch, bin ihm damals aber meist aus dem Weg gegangen, da er uns von den amerikanischen Investoren mit neuen Konzepten und Produkten vor die Nase gesetzt wurde und daraufhin einige Führungskräfte gegangen sind bzw. gegangen wurden. Insofern habe ich damals nicht viel von seinem Privatleben mitbekommen, nur dass auch er zumindest vorübergehend eine Tochter in Paris hatte. Als wir noch beim Begrüßen waren, kam seine Frau dazu, eine sehr nette Asiatin. Die beiden waren auf dem Camino Francés, den sie binnen drei Jahren in drei Etappen absolviert haben. Nun sind sie das erste Mal in Santiago und begeistert. Da die paar Minuten in der Kathedrale längst nicht ausgereicht haben, um sich über die Jakobswege auszutauschen, haben die beiden mich noch auf ein Bier in bzw. vor die nächstgelegene Gaststätte eingeladen. Da haben wir bis fast halb zehn gesessen und die beiden haben mich über die Caminos, die ich schon gelaufen bin, ausgefragt. Die zwei gehören zwar zu den „Lightpilgern“ mit Reservierungen in etwas besseren Unterkünften und Gepäcktransport, waren aber sehr daran interessiert zu erfahren, was andere Pilger auf den verschiedenen Wegen erleben. Da war ich ja in meinem Element und konnte mit allen möglichen Erlebnissen aufwarten. Jacks Frau, die ich gar nicht nach ihrem Namen gefragt habe, hat da immer wieder nachgehakt. Über die Arbeit haben wir gar nicht gesprochen, es blieb also ein sehr angenehmes Gespräch. Soweit ich weiß, ist Jack einem Firmenverkauf zum Opfer gefallen und auch nicht mehr im Unternehmen. Er meinte nur, dass er jetzt Zeit für seine vier Kinder hätte. Das war nun eine völlig unerwartete Begegnung und ich wundere mich immer wieder, dass man in der von Pilgern und Touristen überfüllten Stadt Bekannte wiedertrifft. Voriges Jahr im Herbst habe ich dort John, einen über 70jährigen Amerikaner wiedergetroffen, der im Frühjahr mit seiner Tochter auf dem Camino del Norte unterwegs und oft in der gleichen Herberge wie ich war. Der hatte in dem Jahr auch noch einen zweiten Camino gemacht. Nicht nochmal getroffen habe ich Fernando. Der ist am Tag zuvor angekommen, aber leider auch gleich weiter, weil er sich noch etwas in der Gegend umsehen will, bevor es wieder nach Zürich geht. Das war eine nette Bekanntschaft, die ich nochmal gern wiedersehen würde. Durch das Quatschen bin ich gar nicht mehr zum Einkaufen gekommen. Ich bin zwar noch zu einem „Dia“ geeilt, aber der hatte schon um neun zugemacht, inzwischen war es fast um zehn. Da bin ich in eine Kneipe, wo ich mir gegen meinen Hunger einen großen Burger habe kommen lassen. Zum Bier gab es neben Oliven noch Nüsse und Chips, da konnte ich mir schon mal für den nächsten Morgen ein paar Kalorien anfuttern. Die Kneipe war fast leer, aber als da zwei junge Männer ihre Instrumente, einen Dudelsack und ein Akkordeon, herausholten und zu spielen anfingen, hat das noch ein paar Leute angelockt, die sich um die beiden rumsetzten und lauschten. Einige waren ganz offenbar Freunde der Musiker, denn da gab es laufend Bussi Bussi. Das war ein schöner Ausklang des Abends - und ein gutes Ende der erlebnisreichen Touren von Oviedo bzw. Vigo nach Santiago. Es war im Übrigen jene Kneipe, vor der in mehreren Sprachen ein Goethe-Spruch ins Pflaster gemeißelt ist: „Europa ist auf der Pilgerschaft geboren.“ Da ist was Wahres dran, denn wer ist denn früher schon in andere Länder gekommen und auf fremde Kulturen gestoßen, wenn er nicht gerade als Söldner, Händler oder eben als Pilger unterwegs war? Und in Zeiten, wo es so viele Bestrebungen gibt, das mühevoll vereinte Europa wieder kaputt zu machen, fällt dem Pilgern und überhaupt dem Reisen mit offenen Augen, Ohren und Herzen wieder eine große Bedeutung zu. Also bis zum nächsten Mal. |
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Variante Espiritual - Tag 5 (17) |
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