Tag 4 (So, 15.10.2023) Santarém - Monsanto / 33,5 km
10.30 Uhr. Ich bin gerade an einer Straßenkreuzung auf einen schönen Rastplatz gestoßen, da will ich mal kurz Pause machen. Obwohl es sich auf der dünnen, aber sehr weichen Matratze nicht gut lag, habe ich recht lange geschlafen. Luft gab es zum Glück reichlich, ich hatte meine Nase direkt an der offenen Terrassentür. Das war auch gut so, denn der Engländer, der mit uns in Azambuja war, hatte das Bett gegenüber und hat sich die Füße dick mit Rheumasalbe oder Voltaren eingeschmiert. Dabei habe ich (nach dem in Leipzig erlebten Pizza-Schneiden mit der Schere) eine weitere Eigenart der Engländer kennen gelernt. Er hat aus der Tube ein stattliches Häufchen auf die Bettdecke (!) platziert und genüsslich mit beiden Händen die Füße eingerieben. So haben die anderen noch was davon, wenn er gerade nicht im Zimmer ist.
Sachenpacken im Dunklen mag ich ja gar nicht und so habe ich mich gefreut, dass gegenüber der Terrassentür eine Laterne stand. Aber die wurde pünktlich um sieben abgeschaltet, obwohl es da noch duster war. Ich habe wie üblich zum Schluss nochmal alles mit der Smartphone-Lampe abgesucht und bin mir sicher, dass nichts liegengeblieben ist. Trotzdem vermisse ich meine Sonnenbrille, aber die brauche ich heute nicht und wenn sie sich nicht wieder anfindet, ist sicher leicht Ersatz beschafft.
Als ich halb acht endlich mit dem Packen fertig war, bin ich im Flur auf Raoul gestoßen, der gerade im Aufbruch war. Da ich auf der Terrasse noch frühstücken wollte, ist er solange geblieben. Wir sind danach zusammen bis zum zentralen Platz der Stadt, wo sich dann unsere Wege trennten - er nach rechts und ich geradeaus. Der Abschied war nochmal sehr herzlich und ich würde mich freuen, wenn wir uns auf dem Weg nochmal treffen sollten, was auch er beteuert hat.
In der Stadt Santarém, die sich „Stadt der Gotik“ nennt, gibt es wirklich ein paar sehenswerte Kirchen und städtische Gebäude, aber um diese Zeit war alles zu. Anders als erwartet waren auch kaum Cafés offen - sonntags schläft man wohl doch gerne aus. Einige Kilometer ging es dann durch Einfamilienhaussiedlungen, in denen es außer zum Schlafen nichts gibt. Erst weit außerhalb an einer Landstraße bin ich auf eine Bar gestoßen, wo ich meinen Café con Leche (1,10€ mit Kreditkarte) bekommen habe. Von den Anwesenden hatten manche um zehn schon ihre Wochenration geistiger Getränke intus.
Jetzt fängt es an zu regnen, da muss ich weiter, hier ist kein Dach überm Kopf.
12.00 Uhr. Der erste Regen ist durch. Eigentlich war der erst für um eins angesagt, aber woher soll der Regen wissen, was die Wetter-App prophezeit?
20.45 Uhr. Leider war das nicht der letzte Regen. Bald fing es nochmal richtig an. Da war ich gerade an einem Unterstand, den offenbar ein älterer Herr für die Pilger errichtet hat, damit diese rasten und sich bei Regen unterstellen können. Genau richtig. Und eine Hälfte war sogar so bedacht, dass kein Regen durchkam. Ein paar Stühle gab es und ringsum unendlich viele Erinnerungsstücke an den „Caminho de Fátima“, welche Pilger zurück­gelassen haben: von Medaillons über Wimpel und Fahnen bis hin zu T-Shirts mit persön­lichen Widmungen. Und eine ganze Ecke mit Bildern, auf denen fast überall besagter Herr mit irgendwelchen Pilgern zu sehen ist. Ich habe mich auf einem der Stühle samt Rucksack und mühevoll darüber gestülptem Regencape niedergelassen - und bin im Sitzen eingeschlafen. Nachdem ich dabei fast in die Deko gefallen wäre, habe ich versucht, mich wachzuhalten, bis der Regen nachlässt. Beides hat nicht geklappt. Ich bin wieder eingenickt und fast vom Stuhl gefallen - und der Regen ist stärker geworden. Dann bin ich einfach los, zumal der bergauf führende Weg immer schwerer passierbar wurde. In Galizien hat es manchmal von morgens bis abends geregnet, hier sollte halb drei Schluss sein.
Im nächsten Dorf (Achete / Vale Flores) gab es zum Glück eine Gaststätte, in die ich mich flüchten konnte, denn inzwischen zog die Nässe von den Knien an die Hosenbeine hoch, was ungemütlich wird, wenn sie im Schritt angekommen ist. Schon beim ersten Blick in den kleinen Gastraum habe ich wahrgenommen, dass es hier was Ordentliches zu essen gibt. Die Frau des jungen Wirts kam auch gleich mit ihrem Übersetzungsprogramm und hat mir die Tagesmenüs offeriert: Kabeljau, Schweinehaxe und Schweinekieferknochen. Da habe ich mich für Letzteres entschieden, ohne zu wissen, was da kommt. Das war aber letztlich ganz lecker: zwei flache Knochen mit beidseits Fleisch (ich glaube, das heißt bei uns „Schweinebacke“), dazu gute Pommes, eine Schale Reis und ein Teller Tomatensalat. Davor hatte ich noch eine Fischsuppe mit einem Brotkorb dazu. Das Dessert habe ich weggelassen und nur den Kaffee zum Abschluss genommen. Alles zusammen erschien dann als Menü mit 10€ auf der Rechnung.
Inzwischen hatte es zwar aufgehört zu regnen, aber ich bin trotzdem mit Regenponcho los.
In einem der nächsten Orte (Advagar) stand plötzlich ein gut aussehender, schlanker, hellbrauner Hund vor mir, der gerade an meiner Wade entlang gestreift ist, um meine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Das fand ich schon mal gut, denn er hätte ja auch in die Wade beißen können, um auf sich aufmerksam zu machen. Als er sich sicher war, dass ich ihn wahrgenommen habe, ist er losgelaufen, immer vor mir her. Dabei ist er aber längst nicht auf dem Weg geblieben, sondern links und rechts in die Olivenhaine gerannt, um die Kaninchen aufzuscheuchen, die dann in Todesangst vor mir über den Weg geflitzt sind. Er ist in jedes Gebüsch rein, jeden Hang hoch bzw. runter, aber immer so, dass er wieder ein paar Meter vor mir auftauchte. In den Dörfern ist er in jedes zugängliche Gehöft und hat dort die Hofhunde in Rage gebracht und die Katzen auf die Bäume getrieben. Aber alles ohne Bellen, Beißen oder irgendwelche Aggressivität. Ein Hundehalter sagt in diesem Fall immer „Der will nur spielen“. Wenn er nicht zu sehen war, dann wusste ich aber immer am Bellen anderer Hunde, auf welchem Grundstück er gerade ist. Kläffende Hunde hat er ignoriert. Zwei riesige Exemplare, die über eine Balkonbrüstung hingen und sich die Kehle aus dem Hals bellten, hat er keines Blickes gewürdigt. Als dann mal drei unangeleinte Hunde vor uns erschienen, davon zwei größer als er, ist er plötzlich an meiner Seite gelaufen, was er den ganzen Weg über noch nicht gemacht hatte. Ob ich ihn beschützen sollte, oder ob er mich beschützen wollte, weiß ich nicht. Aber vermutlich Letzteres, denn ich wäre kein guter Schutz gewesen. Als die anderen Hunde ihn attackieren wollten, hat er sich mutig in den Weg gestellt und durch geschicktes Ausweichen und Hakenschlagen klar gemacht, wer hier im Vorteil ist. Von mir wollten die Hunde daraufhin nichts mehr wissen. Da war ich echt beeindruckt, auch wenn es sich bei den anderen Hunden zugegebenermaßen nicht um welche gehandelt hat, die einem gleich in die Kehle gebissen hätten. Aber nun habe ich mich schon etwas sicherer gefühlt und mir kam der Gedanke auf, dass es sich hier vielleicht um einen Schutzengel handelt, der statt zwei Flügeln vier Pfoten hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er irgendwie Hilfe organisiert hätte, wenn mir was zugestoßen wäre.
Der Hund hat die ganze Zeit nicht ein einziges Mal gebettelt oder Schmuseversuche gemacht. Der war ununterbrochen auf Achse, hat mich aber immer wiedergefunden, wenn ich zwischenzeitlich abgebogen war. Es hat Spaß gemacht, ihm zuzuschauen und ich habe ihn richtig liebgewonnen. An einem Wasserhahn wollte ich ihm was zu trinken geben, aber er war schon 50 Meter weiter und wartete dort auf mich. Winken und Rufen bewirkten nichts - es wäre schließlich ganz verrückt, wenn der auch noch Deutsch verstehen würde. Da habe ich mich nur hinter einer Hausecke versteckt und schon kam er angerannt, weil er dachte, ich sei abgebogen. Saufen wollte er letztlich gar nicht, da hatte er bestimmt bei seinen Ausflügen was gefunden. Von meinen Wiener Würstchen im Rucksack hätte ich ihm ja gern was abgegeben, aber da kam ich bei meiner Verkleidung mit dem Regenponcho gar nicht ran.
Angst hatte ich immer, wenn Autos kamen. Da die stets bremsten, war er der Meinung, das muss so sein und hat sich gar nicht vorgesehen.
Er hat mich letztlich 16 km, also vier Stunden lang bis Monsanto begleitet. Als der Ort mit meiner Herberge erreicht war, habe ich gegrübelt, wie ich mich von ihm trennen kann, denn ich wollte und konnte ihn nicht mit in die Herberge nehmen und das hätte er sicher auch gar nicht gewollt. Aber ihn einfach so draußen rumirren lassen, wollte ich auch nicht, obwohl er das sicher gepackt hätte. An einer Kreuzung im Ort ist er mal wieder zwischen drei Autos gelaufen, die zum Glück alle gebremst haben. Ein Auto hielt an und eine Frau zog den Hund rein. Ich hatte da nur die Varianten im Sinn, dass es sich um die Besitzerin handelte, die es bei einem frei rumlaufenden Hund vermutlich gar nicht gibt, oder um eine Hundefängerin. Aber wie sich später zeigte, saßen in dem Auto zwei Tierliebhaberinnen, die den Hund einfach von der Straße holen wollten. Als ich nämlich an der Bar ankam, in der ich mir den Schlüssel für die Herberge holen sollte, waren genau dort vor der Tür die beiden Frauen bemüht, den Hund festzuhalten. Ich habe denen noch gesagt, seit wann mich der Hund begleitet hat und bin dann schnell rein. Nun wusste ich ja, dass der Hund in vermutlich guten Händen ist. Ich hoffe nur, dass der nicht irgendwo eingesperrt wird, sondern weiter draußen rumtoben kann.
Ich hatte zwischendurch schon mal überlegt, ob ich ihm einen Namen gebe. Irgendwas Niedliches kam nicht in Frage, auch nichts Heroisches wie Cäsar. Friedrich Wilhelm erst recht nicht. Da kam mir in den Sinn, dass „Benny“ gut passen würde. Denn den Schilderungen meiner Mutter zufolge soll ich früher genauso wild gewesen sein. Und ein bisschen Freiheitsdrang und Neugier habe ich mir ja bis jetzt bewahrt. Aber wer ruft schon einem Hund seinen eigenen Namen hinterher.
In der Bar gab es im Tausch gegen 10€ den Herbergsschlüssel und gegen eine geringe Zuzahlung etwas aus dem Zapfhahn. Die Stammbelegschaft am Tresen hat dann versucht, mir den Weg zur Herberge zu beschreiben. Dabei hat sich einer damit hervorgetan, dass er mir die Entfernungsangaben in Yard gemacht hat, weil wir ja Englisch gesprochen haben. Wäre ich seinen Angaben gefolgt, würde ich jetzt noch suchen. Den Straßennamen habe ich mir schließlich aus dem Foto der Herbergsliste geholt, die mir Paula gezeigt hatte. Ein aufgeschnapptes Wort war allerdings hilfreich: „Glockenturm“, denn in der Straße war kein Hinweis auf die Herberge. Aber am Glockenturm (der stündlich mitteilt, wie spät es ist und auch zur halben Stunde nochmal gongt) ist ein kleines Häuschen angebaut, in dessen Tür mein Schlüssel passte. Umgeben von unverputztem Natursteinmauerwerk stehen drinnen auf einem ordentlich gefliesten Boden sechs Betten und ein Tisch. In der Ecke noch eine kleine Spüle und eine Mikrowelle. Hinter einer Tür in einem Anbau befindlich, ist ein Bad. Auf den Turm rauf kann man aber nicht, dafür gibt es einen separaten Eingang. Sonst könnte man ja nachts das Läutewerk ausschalten.

Camino Portugues Central - Tag 4