Tag 5 (Mo, 16.10.2023) Monsanto - Fátima / 27,8 km
10.00 Uhr. Ich sitze in Minde, ca. 17 km vor Fátima in einer Bar und warte den Regen ab, der gerade runterkommt. Soviel Zeit muss sein. Außerdem gibt es in der Bar ein paar Kleinigkeiten zu essen - ich bin ja heute früh ohne Frühstück los. Es war noch fast eine Stunde dunkel und vor allem sehr neblig, was auch jetzt noch zutrifft. Bei entgegen kommenden Autos bin ich immer freiwillig ins Bankett, denn die Autofahrer haben ja so wenig gesehen wie ich. Irgendwann bog der Weg von der aufwärts führenden Straße ab. Nun ging es auf einem felsigen Weg bergauf, teils durch Wildnis, teils entlang der aus Felsbrocken aufgeschichteten Mauern kleiner Olivenhaine. Immer bergauf auf glitschigen Felsbrocken. Zum Glück gab es die ganze Zeit über nur Sprühregen und keinen richtigen Regenguss. Dann wäre es sehr schwer gewesen, hier voranzukommen.
Nach gut 200 Höhenmetern stieß der Pfad auf einen Rastplatz an einer Straße, die hier wohl gerade über einen Pass führt. Auf der anderen Straßenseite war eine Aussicht mit einer großen Tafel, auf der erklärt wird, was es hier (theoretisch) zu sehen gibt. In Wirklichkeit war nur Nebel zu sehen, man konnte aber trotzdem ausmachen, dass es steil nach unten geht. Ein Stück ging es entlang der Straße bergab, die genau dort Leitplanken hat, wo ich üblicherweise ins Bankett springe, wenn ein Auto kommt. Jetzt musste ich mich immer an die Leitplanke pressen und zusehen, dass der Rucksack nicht im Fahrweg ist. Bald ging es wieder weg von der Straße und einen steinigen Weg runter bis nach Minde hinein. Am Abzweig stand ein Schild, dass es noch 18 km bis Fátima und 486 km bis Santiago sind. Das nenne ich einen Lichtblick. 486 km entsprechen etwa der Via Regia von Görlitz nach Vacha, die ich im Frühjahr gelaufen bin. Das sollte zu schaffen sein. Nebenbei habe ich gerade ein Croissant-ähnliches Gebilde, gefüllt mit Hühnchenfleisch, und ein warmgemachtes Brötchen mit eingebackener Chouriço (mit Paprika und Knoblauch gewürzte Wurst) und Käse verzehrt. Beides lecker und nahrhaft. Bei der Auswahl hat mir ein Gast geholfen, denn die Wirtin hat nicht verstanden, dass ich etwas ohne Zucker haben will.
Vor dem Kneipenbesuch in Minde habe ich mir noch die dortige Kirche angeschaut, deren Tür offen stand, weil drinnen eine alte Dame am Schaffen war. Ich konnte gerade noch einen Blick auf den goldenen Hauptaltar werfen, da verschwand die Dame, die mich eigentlich beim Reinkommen gesehen haben müsste, in der Sakristei, knipste das Licht aus und verrammelte die Tür. Als sie gesehen hat, dass ich da noch ganz verstört mit dem Smart­phone stehe und fotografieren will, hat sie aber freundlicherweise die Sakristei wieder aufgeschlossen und das Licht nochmal eingeschaltet. So konnte ich von der halbhoch gefliesten Kirche und ihren fünf goldenen Altären noch ein paar Bilder machen. Nichts Außergewöhnliches und ein bisschen kitschig, aber irgendwie schön.
Nach dem Kneipenbesuch und ein paar kräftezehrenden Metern in einen höher gelegenen Ortsteil bin ich schon wieder in einer Kirche verschwunden, dieses Mal aber, um mein Mittagsschläfchen zu halten. Damit die Kirche nicht gleich neu geweiht werden muss, habe ich mich auf der Empore in die hinterste Ecke verzogen, mich mit Rucksack und Poncho über Mann und Gepäck auf den Holzboden gelegt und den Kopf auf einer gepolsterten Fußbank platziert - für die üblichen 15…20 Minuten war das völlig ausreichend. Ein schlechtes Gewissen hatte ich dabei nicht, denn viele schlafen in der Kirche sogar bei der Predigt.
Gut ausgeruht ging es wieder ins Freie, leider in einen strömenden Regen. Da Minde im Tal liegt, ging es bergauf weiter, überwiegend auf gewalzten Wegen, die an sich gut zu laufen sind, aber heute voller Pfützen standen. Links und rechts des Weges waren immer häufiger Mauern aus aufgeschichteten Steinen zu sehen, einige davon schon richtig alt. Dahinter fanden sich überwiegend Eukalyptus-Bäume, aber auch Olivenbäume und vermeintliche Korkeichen. Ob es wirklich Eichen waren, weiß ich nicht, aber zumindest war am Stamm die dicke Rinde entfernt, aus der Korken gemacht werden.
Da aus der Karte ersichtlich war, dass es die letzten acht Kilometer immer um Ortschaften herum geht, bin ich irgendwann vom Camino abgebogen und auf der Landstraße nach Fátima. Ich hatte für heute genug von schlammigen Waldwegen und wollte auch noch ein paar Orte sehen. Außerdem wollte ich im Falle einer plötzlichen Dehydrierung oder einer drohenden Nierenkolik nicht so weit von einer rettenden Getränkequelle entfernt sein. Und da man ja vorbeugen statt heilen soll, bin ich in einem Vorort von Fátima in eine offene Tür mit Mückenschutzvorhang rein, obwohl da nichts von Kneipe stand und nur eine Bank vor der Tür meinen Verdacht geweckt hatte. Und siehe da, ich war richtig. In dem winzigen Raum war eine Theke. Dahinter der Wirt mit einer Krücke und davor der Gast mit zwei Krücken. Die beiden schauten, als ob ich unangemeldet den Zähler ablesen will. Dass da einfach jemand reinkommt, der ein Bier trinken will, hatten die gar nicht in Erwägung gezogen. Das war übrigens eine jener Kneipen, bei denen ich freiwillig ein Flaschenbier nehme. Und das war sogar gut gekühlt. Bei all dem Regen war es heute nämlich gar nicht kalt. Und da ich meinen Pulli anhatte, damit der Regenponcho nicht immer auf den Armen klebt, habe ich ziemlich geschwitzt.
Beim Weg durch die Vororte bin ich übrigens am Fußballstadion vorbei gekommen, das man dem fußballbegeisterten, argentinischen Papst zu Ehren „Estadio Papa Francisco“ genannt hat. Eine nette Geste.
Da, wo die von mir gewählte Alternative wieder auf den ausgeschilderten Weg gestoßen ist, war es fast geschafft. Es galt nur noch, einen der riesigen Parkplätze zu überqueren und schon stand ich im „Santuário de Fátima“, einem riesigen Komplex, der mich schwer be­eindruckt hat. Es handelt ich um eine große, zur Mitte hin abfallende Freifläche, auf der -zig Tausende Platz fänden. Am südlichen Ende ist eine große, runde Halle, die über 8500 Besucher fasst und für Gottesdienste zu besonderen Anlässen benutzt wird. Die ist innen eigentlich ganz schlicht, nur der Altarraum ist repräsentativ gestaltet. An der Decke ist nur weißes Segeltuch zu sehen, das von der Rückseite beleuchtet wird. Zwei riesige Betonträger ziehen sich mit ein paar Metern Abstand durch die Halle und ragen bis weit auf den Platz hinaus. Auf der gegenüber liegenden Schmalseite des Platzes thront deutlich erhöht die Basilika, an die sich zu beiden Seiten halbkreisförmig Arkaden anschließen. Davor auf halber Höhe ein sehr moderner, überdachter Altar für Gottesdienste im Freien.
Tritt man aus der Halle heraus, kann man wenige Meter weiter auf einer von zwei breiten Treppen in einen ganz modernen Bereich unter dem Platz absteigen, wo sich diverse Kapellen, Ausstellungsräume, Kunstinstallationen, Sanitäranlagen usw. befinden. Oben befindet sich am Rand des Platzes ein quaderförmiger Bau, der nach zwei Seiten verglast und zum Platz hin offen ist. Drinnen, umgeben von Marmorbänken, steht eine winzige Kapelle mit einer Marienfigur davor. Hier soll Maria den drei Kindern erschienen sein. Das alles zusammen sieht sehr reizvoll aus und ist schon aus architektonischer Sicht eine Reise wert. Zumindest im beschriebenen Bereich sind auch keine Devotionalienhändler zu sehen und anderswo üblichen Kitsch sucht man auf dem Platz vergebens. (Den gibt es aber in den umliegenden Straßen sehr reichlich.)
Das Einzige, was mich abgestoßen hat, war der Ort und die Art des Kerzenaufstellens. An einem Stand kann man für einen schmalen Taler Kerzen in allen Formaten erwerben, wovon sehr reichlich Gebrauch gemacht wird. Manche tragen da ganze Bündel dicker Halb-Meter-Kerzen weg. Dass man die nicht alle irgendwo in der Kirche platzieren kann, ist verständlich. Also geht man damit zu einer „Brennkammer“, das heißt einen in die Wand eingelassenen Graben mit Hunderten Kerzenhalten darüber. Das in den Graben herunterlaufende Wachs brennt nur dummerweise an vielen Stellen und bringt alles darüber Befindliche zum Schmelzen. Kaum hat man die Kerze abgestellt, biegt sie sich in der Hitze und ehe sie einen Zentimeter abgebrannt ist, schmilzt sie am unteren Ende und sorgt dafür, dass das Feuer im Graben neue Nahrung findet. Für einen jungen Kokelfritzen ist das ein grandioses Schau­spiel, aber wenn man im Gedenken an einen lieben Menschen eine Kerze aufstellen will, dann ist das ein denkbar ungeeigneter Ort. Da kann man auch irgendwo in der Wildnis einen Reifen anzünden. Als ich zusehen musste, wie die für meine Mutter aufgestellte Kerze binnen kürzester Zeit zu einem unansehnlichen Wachsklumpen mutierte, musste ich fast heulen.
Da war ich froh, dass um 18.30 Uhr in der Basilika der übliche Abendgottesdienst war, bei dem ich meinem Gedenken auf andere Weise Ausdruck verleihen konnte. Die Basilika ist innen sehr hell und ansprechend eingerichtet. Der Gottesdienst, den ein Priester mit sechs Konzelebranten hielt, war ganz gut besucht. Ein stimmgewaltiger Vorsänger und die Orgel haben zu einem zu Gemüte gehenden Gottesdienst beigetragen. Der Priester hat zum Anfang die Pilger begrüßt. Wenn ich mich umgesehen habe, konnte ich keinen entdecken, der mir ähnlich gekleidet und ausgestattet war. Nur zwei Leute mit Rucksack hatte ich auf dem Platz entdeckt. Nach dem Gottesdienst war es schon dunkel und nun sah alles noch viel eindrucksvoller aus. Die Basilika war hell angestrahlt und aus dem Glaskubus mit der Kapelle drang helles Licht auf den Platz, denn auch da fand gerade ein Gottesdienst statt. Ich bin mit vielen Vorurteilen hergekommen, aber von der Atmosphäre stark angesprochen worden.

Camino Portugues Central - Tag 5