Unterwegs auf der Via del Estrecho / Via Augusta von Gibraltar nach Santiago
Tag 6 (Mo, 18.11.2024) Von Conil de la Frontera nach San Fernando / 31,8 km
Ich bin heute wieder zeitig aufgewacht und habe, statt mich noch lange im Bett zu wälzen, meinen Kram zusammengesucht und in die Küche geschleppt, wo ich mich dann fertig angezogen, gefrühstückt und den Rucksack gepackt habe. Im Zimmer hat (hoffentlich) niemand was davon mitbekommen. Wir waren da nur zu viert: ein junger Hamburger, der gerade mit Bus, Bahn und Flugzeug hier durch die Gegend zieht, ein wortkarger Spanier und eine junge Frau, die mit dem Rucksack unterwegs ist, woher und wohin, weiß ich nicht.

So gegen sieben, als es noch dunkel war, bin ich losgezogen. Im vermeintlichen Zentrum des Ortes mit Kirche und altem Wehrturm war da schon ordentlich was los. Da sollte wohl ein Film gedreht werden und unzählige Hilfskräfte schleppten Scheinwerfer, Kameras usw. durch die Gegend, rollten Kabel aus und bauten Podeste. Jene, die was zu sagen hatten, oder sich für solche hielten, lungerten derweil vor der schon offenen Kneipe rum und besprachen bei dampfenden Kaffee den anstehenden Dreh. Diesen Vorbereitungen habe ich es zu verdanken, dass ich mir die ansonsten sicher verschlossene Kirche anschauen konnte. Die Filmleute hatten dort nämlich über Nacht ihre ganze Technik gelagert, die sie jetzt rausholten und über den Platz verteilten.

Um aus dem Ort rauszukommen, musste ich erstmal auf der Karte erkunden, wo die sich ans Zentrum anschließenden Urbanisationen ihre Ein- und Ausfahrten haben. Aus den ver­schiedensten Gründen sind die Eigentümer hier bedacht, den Durchgangsverkehr aus ihren Wohnsiedlungen rauszuhalten. Selbst wenn nichts umzäunt und abgeschlossen ist, kann man meist nicht so einfach vorne reine und hinten raus. Da dreht man mitunter unfreiwillig eine große Runde, um genau da wieder rauszukommen, wo man reingekommen ist.

Hinter einer solchen, noch im Bau befindlichen Urbanisation ging es noch durch mehrere Siedlungen älteren Datums, die nicht so abgeschlossen sind - kleine Dörfer, in denen viele Häuser nur in der Ferienzeit bewohnt sind. Da kann man die eine oder andere tolle Villa bestaunen, aber sonst gibt es da nichts zu sehen.

Hinter der vorerst letzten Siedlung führte der ausgeschilderte Wanderweg hoch auf die Steilküste und verlief fortan dicht an der Kante, so dass man immer wieder tolle Blicke auf die Klippen und die dazwischen liegenden Strände hatte. Zu denen führen an vielen Stellen Treppen runter. Da man an den meisten Stellen mit dem Auto bis an die Treppe heranfahren und dort kostenlos stehen kann, trifft man auch zu dieser Jahreszeit dort Urlauber. Bei uns würde man mit allen Mitteln versuchen, Autofahrer von solchen Plätzen fernzuhalten oder ordentlich zur Kasse zu bitten. Hier ist es so, dass an der Zufahrt zu den Klippen zwar auf einer Tafel ein „Einfahrt verboten“-Zeichen ist, aber darunter geschrieben steht, dass dies nicht für Touristen gilt. Verkehrte Welt.

Am Cabo Roche, wo es neben einem Leuchtturm einen modernen Sport- und Fischereihafen gibt, führt der Weg mal runter zum Wasser und über das Flüsschen Rio Roche. Da unten stehen zu beiden Seiten der Straße rostige, mannshohe Anker aufgereiht. Ein regelrechter Ankerfriedhof. Verwunderlich ist nur, dass alle vom gleichen Fabrikat und im gleichen Zustand sind und dass diese wie nachts die Tische vor der Kneipe alle mit Stahlseilen gesichert sind. Wer klaut denn rostige Anker? Jemand der mal „den Anker werfen“ will?

Dicht am rechteckigen Leuchtturm auf der Klippe, der dem Anschein nach mal ein mittel­alterlicher Wachtturm war, stand am Wegesrand ein Armeefahrzeug mit einem Schiffsradar oben drauf. Die Tür des Bedienraumes stand offen und man konnte da einem Soldaten bei der Arbeit zuschauen. Sowas nenne ich „Öffentlichkeitsarbeit“.

Weiter ging es auf einem von Füßen und Rädern zerfurchten Klippenweg, der hinter dem letzten Abgang zum Strand in einen Holzsteg überging und auf ein großes, dreistöckiges Hotel zulief, das regelrecht den Weg versperrte. Das war in einem sehr guten Zustand, aber alle Fenster waren geschlossen und die Vorhänge zugezogen - Winterpause!

Dahinter fand sich eine Siedlung, die wie der Fluss und das Kap „Roche“ heißt und sich mehr als einen Kilometer am Wasser langzieht und ebenso breit ist. Da konnte man wieder schöne Anwesen unter riesigen Palmen bestaunen, aber leider auch im Ortskern eine Kirche mit kaputten Fenstern. Und, wie hier auch in kleineren Orten üblich, mit eigenen Kanaldeckeln auf der Straße. In einer kleinen Parkanlage mitten im Ort rollten gerade unter den Bäumen ein paar Frauen ihre Gummimatte ein, auf denen sie Gymnastik gemacht hatten. Viel mehr kann man hier wohl im Winter auch nicht unternehmen. Aber immerhin fährt ein Bus in die nächste Stadt.

Hinter Roche gesellte sich wieder ein breiter Radweg zur Straße - im warmen Ockerton und ohne Risse! Dann kam etwas in Sicht, was von weitem wie eine Ritterburg aussieht, sich dann aber nur als eine Bettenburg erwies. Aber eine einfallsreich gestaltete. Die vielen, meist mit blickdichten Mauern umgebenen Urbanisationen, die danach folgten, waren hingegen weniger einfallsreich. Da ragten mehrgeschossige Bauten über die Mauern, in jeder Urbanisation einheitlich. Nur vereinzelt war da mal eine Jalousie hochgezogen. Zwischen­durch kam mal wieder ein Hotel, bei dem man an der Zufahrt den (bekannten) Namen verhüllt hat, damit sich niemand auf das Gehöft verirrt. Aber immerhin waren ein paar Leute auf dem gepflegten Golfplatz, der sich auf beiden Seiten der Straße zwischen die Urbanisationen zwängte und dessen Hälften durch einen Tunnel unter der Straße miteinander verbunden waren. Ich weiß nicht, ob das Zufall war, aber auf der einen Seite waren nur Männer unterwegs und auf der anderen nur Frauen.

Diese Ansammlung von Ferienunterkünften nennt sich Novi Sancti Petri und hat natürlich auch eigene Kanaldeckel, allerdings ganz einfallslose. Die Straße, die sich durch den Ort zieht, kann man pompös nennen. Neben den Richtungsfahrbahnen gibt es jeweils einen Standstreifen und einen breiten Fußweg. Auf einer Straßenseite finden sich außerdem links vom Fußweg ein alter und rechts davon ein neuer Radweg. Da war natürlich auch nur mäßig was los. Die Funktion der Standspuren hat sich übrigens sehr schnell geklärt. Zwecks Verkehrs­beruhigung hat man Schwellen auf die Fahrbahnen geklebt. Und weil es immer so holpert, wenn man dort mit etwas höherer Geschwindigkeit rüber fährt, benutzen viele Autofahrer die Standspur, um die Schwellen zu umfahren. Wenn man einem solchen Auto­fahrer hinterher schaut, denkt man, der fährt Slalom.

Irgendwie war ich den Tag über nicht gut drauf und bin nur langsam vorangekommen. Deshalb bin ich von Novi Sancti Petri auf direktem Weg zu dem zugehörigen Hauptort, Chiclana de la Frontera gelaufen. Das ging gut auf dem leeren Radweg, war aber nicht sonderlich prickelnd, weil nebenan auf der Straße einige Autos unterwegs waren und es nicht so viel zu sehen gab.

Im Zentrum von Chiclana sah es hingegen sehr nett aus. Am Plaza Mayor steht eine wuchtige, leider verschlossene Kirche und zwischen den Häusern erhebt sich ein alter Torturm, das heißt ein hoher, schlanker Turm mit einer Durchfahrt. Kirche und Turm haben die bräunliche Farbe des Sandsteins, alle anderen Gebäude sind mehrheitlich weiß. Das ergibt einen einheitlichen, freundlichen Eindruck.

Einen Nachbarort mit lauter weißen Häusern, der sich auf einem Berg hinzieht, habe ich erst für eine Schneekuppe gehalten. Aber bei 19…20 Grad Tagestemperatur (und nachts kaum weniger) war Schnee doch etwas unwahrscheinlich.

Am nördlichen Rand von Chiclana gelangt man auf eine Uferpromenade am Rio Iro, den man auf einer Bogenbrücke überqueren kann. Hinter der Brücke weitet sich der Fluss zu einem breiten Delta, das angeblich als Saline genutzt wird. Von Salz war in den großen, künstlich angelegten Becken aber nichts zu sehen. Vielleicht im Sommer, wenn ein Teil des Wassers verdunstet. Durch diese bizarre Landschaft schlängelt sich ein gut befestigter Weg, der selbst außerhalb der Saison gut von Fußgängern und Radfahrern genutzt wird. Auch ein paar hoffnungsvolle, aber erfolglose Angler standen am Wasser. Mittendrin ist etwas abseits vom Weg eine Gaststätte, zu der offenbar eine Schulklasse einen Ausflug gemacht hat. Mir kam von dort ein Kremserwagen entgegen, der an einem SUV hing und auf dem eine Schar einheitlich gekleideter, lustiger Kinder mit ihrem Lehrer saß. Letzterer wäre bei uns vermutlich vom Wagen gesprungen und hätte mir mit der Polizei gedroht, weil ich die Kinder fotografiert habe. Hier hat der Lehrer hingegen die Kinder angestachelt, mir zu winken, wenn sie fotografiert werden. Etwas mürrisch geschaut hat nur der Fahrer, der vermutlich auch hier nicht einfach einen Wagen voller kleiner Leute an sein Auto hängen darf.

Hinter der Wasserlandschaft, für deren Durchquerung man mehr als eine Stunde braucht, zieht sich San Fernando hin. Eine Stadt mit teilweise hohen Gebäuden und viel Verkehr. Mit 95.000 Einwohnern ist sie kaum kleiner als die Provinzhauptstadt Cádiz (115.000 Ein­wohner), die nicht weit entfernt auf einer Insel liegt, welche über einen Damm mit dem Festland verbunden ist. Über diesen Damm führt die Bahnlinie, eine Straße und ein Jakobs­weg, die Via Augusta von Cádiz nach Sevilla. Diesen Weg will ich laufen, mich aber zuvor noch in Cádiz umzusehen. Um dafür Zeit zu haben, habe ich davon Abstand genommen, in San Fernando zu nächtigen und nach Cádiz hinein (und tags darauf auf gleichem Wege wieder raus) zu laufen. Ich habe mich stattdessen in die Straßenbahn gesetzt und bin von San Fernando nach Cádiz gefahren. Als Schummelei betrachte ich das nicht, da ich ja in der Gegenrichtung über den Damm laufen werde.

Die Straßenbahn ist ein Projekt, über das im Internet gelästert wird, weil der Bau 16 Jahre gedauert und knapp 300 Millionen Euro verschlungen hat. Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Bahn fährt nicht nur bis in weit entfernte Vororte wie Chiclana und Jerez, sondern teilt sich auch einen Teil der Strecke mit der Eisenbahn. Auf dem Damm wäre gar kein Platz für ein zweites Schienenpaar gewesen. Also hat man die Straßenbahn mit der gleichen Spurweite und der gleichen Stromversorgung wie die Schnellzüge versehen und auf die Bahngleise gesetzt. Da es aber noch ein paar andere Unterschiede zwischen Straßen- und Eisenbahn gibt, musste man sich noch ein paar pfiffige Details einfallen lassen. So haben die dreiteiligen Triebwagen auf jeder Seite zwei Türen mit Bordsteinniveau und zwei mit Bahnsteighöhe. Hält der Zug auf der Straße bzw. in der Fußgängerzone, fährt bei den hoch gelegenen Türen eine Treppenstufe raus. Hält er im Bahnhof, bleiben die tiefer liegenden Türen zu, dafür fährt bei den anderen ein Brett raus, das die Lücke zur Bahnsteig­kante schließt. Wenn nun jemand mit dem Rollstuhl oder Kinderwagen in der Stadt durch die niedrige Tür einsteigt und im Bahnhof durch die andere Tür aussteigen muss, ist nicht etwa wie bei uns der Fahrer gefragt, der eine Rampe ausklappen oder gar erst heranschleppen muss. Dafür gibt es im Zug eine kleine Hebebühne, mit der man die etwa 20 cm zwischen den tiefer und den höher gelegenen Wagenteilen überwinden kann.

Die Bahn fährt innerhalb von San Fernando etwa alle halbe Stunde; bis nach Cádiz etwa jede Stunde. Von San Fernando nach Cádiz braucht man ungefähr eine halbe Stunde. Etwas ungewohnt ist das Bezahlsystem. Wie auch in anderen Städten üblich, muss man eine Karte kaufen, auf die man dann einzelne Fahrten laden kann. Das habe ich am Automaten auch alles herausgefunden. Es ist mir aber nicht gelungen, eine Karte mit einer ermäßigten Fahrt zu kaufen. Wie ich gelesen habe, zahlt man nämlich ab 60 wie Kinder nur die Hälfte. Aber solch eine Fahrt kann man wohl nicht auf die normale Karte laden, sondern nur auf eine von den Behörden herausgegebene. So habe ich zumindest den netten Herrn verstanden, den ich zur Hilfe gerufen habe. Die Kreditkarte auf dem Smartphone hat der Automat nicht akzeptiert, aber einen 5 €- Schein im richtigen Schlitz. Es kam sogar Wechselgeld! Die Fahrt hat 2,50 € gekostet, ich glaube, davon waren 50 Cent für die Karte. Zum Glück hat mir ein anderer Herr noch erklärt, dass ich die aufgeladene Karte nicht im Zug, sondern vor dem Einsteigen draußen an der Haltestelle an einen Entwerter halten muss und dass ich diese in Cádiz brauche, um den Bahnsteig verlassen zu können. Letzteres war aber gar nicht so einfach, weil an der Sperre die Karte nicht genommen wurde, egal wie rum ich sie in den genau passenden Schlitz gesteckt habe. Bis ich dann darauf gekommen bin, dass man sie oben auf das Lesegerät halten muss. Das weiß ich nun alles, aber wann werde ich mal wieder in Cádiz Straßenbahn fahren?

Als abzusehen war, dass meine Pläne zeitlich realisierbar sind, habe ich in Cádiz in dem besser bewerteten der beiden 17 €-Hostels ein Bett für zwei Nächte gebucht - das letzte in einem 10-Betten-Saal. Dass ich da keine freie Bettenwahl mehr haben werde, war mir klar. Darum habe ich das Hostel angeschrieben und gefragt, ob ich als alter Mann ein Bett in einer der unteren Schlafboxen haben kann. Zurück kam, dass die alle vergeben seien, dass ich aber gern auf ein (etwas teureres) 6-Bett-Zimmer umbuchen könne, wo noch untere Betten frei sind. Ich habe mich herzlich bedankt, aber darauf verwiesen, dass ich armer Pilger sparen müsse. Um es vorwegzunehmen: Ich habe das Herz der Dame an der Rezeption erweicht und als sie mich gesehen hat, hat sie auch das mit dem „armen Pilger“ geglaubt. Und schon hatte ich ohne Aufpreis ein unteres Bett in einem 6-Bett-Zimmer, in dem außer mir nur zwei Personen sind: George aus Liverpool und Friedrich aus dem Berliner Friedrichshain. Letzterer war auch schon im Surfer-Hostel in Conil. Er ist so etwa dreißig und arbeitet als Entwicklungsingenieur bei einem Zulieferer für Elektroautos. Er ist halb dienstlich (Laptop!) und halb privat hier unterwegs. Morgen fährt er nach Madrid und dann kommt er nochmal zurück, um Freunde zu treffen.

Beim Verzehr meiner selbst zubereiteten Rühreier habe ich abends im Speiseraum des Hostels Karin aus Holland kennengelernt, die wie ich mit dem Rucksack auf dem Rücken auf der Via Augusta von Cádiz nach Sevilla und sogar noch weiter nach Mérida laufen will. Sie wird aber erst einen Tag nach mir aufbrechen - leider, denn sie hat viel Interessantes zu erzählen. Sie ist vor fünf Jahren mit ihrem Mann von Santiago über Mérida nach Granada gelaufen, also die Via de la Plata und den Mozarabischen Camino rückwärts. Sie waren aber nicht allein, sondern hatten jeder einen Esel dabei. Die Esel, Mutter und Tochter, hat Karin ihrem Mann eineinhalb Jahre vorher zum Geburtstag geschenkt, damit noch etwas Zeit zum Üben bleibt. Dann haben sie ein Sabatical (unbezahlte Freistellung) genommen und sind losgezogen. Vier Monate waren sie unterwegs und haben stets im Zelt geschlafen, um auch nachts bei ihren Eseln zu sein. Anbinden mussten sie immer nur das Muttertier, das Kleine ist stets bei der Mutter geblieben. Da ich gerade das Buch „Zwei Esel auf dem Jakobsweg“ gelesen habe, in dem ein Engländer (einer der zwei Esel) humorvoll seine Erlebnisse auf einer solchen Eselstour beschreibt, konnte ich wenigstens sachkundig erscheinende Fragen stellen.

Witzig fand ich, dass Karin und ihr Mann die Eselinnen nach ihren verstorbenen Müttern benannt haben: „Cha“ und „Nel“ (so gesprochen, wie es geschrieben wird, weiß ich nicht). Sie waren sich dabei aber der Konsequenzen nicht bewusst, denn immer wenn sie „Cha Nel“ gerufen haben, dachten die Leute, dass sie Parfum-Reklame machen.

Via del Estrecho / Via Augusta - Tag 6