Unterwegs von Madrid nach Santiago de Compostela
Tag 10 (Fr, 5.9.2025) - Von Castromonte nach Cuenca de Campos / 35,8 km
Nach einem kleinen Schläfchen unmittelbar nach der Ankunft habe ich mich gestern in Castromonte auf Nahrungsmittelsuche begeben. Zunächst wenig erfolgreich, denn im Dorf gibt es keinen Laden und sowohl die Bar am (geschlossenen) Schwimmbad gegenüber der Herberge, als auch die in der Karte verzeichnete Kneipe hatten zu. Am Platz an der Kirche fand sich dann aber ein moderner Bau mit Kneipengestühl davor, allerdings aufgestapelt und angekettet. Durch die Scheiben konnte man nicht sehen, ob drinnen was los ist. Aber man kann ja mal auf die Klinke drücken. Und siehe da, die Tür öffnete sich und ich stand im Gast­raum. Wenn ich schon nichts zu essen kaufen kann, dann will ich wenigstens was trinken.
Das Mädel hinterm Tresen sagte mir auf Anfrage, dass es nur mittags ein Menü gibt und später abends dann Tortilla und ähnliches. Da sie selbst aber einen Teller Linsen löffelte, habe ich gefragt, ob nicht davon was übrig wäre. Sie hat daraufhin eine Dame aus der Küche kommen lassen, die mir aufzählte, was noch alles da sei. Ich habe mich aber nicht von den Linsen abbringen lassen, denn die schmecken mir hier so gut. Wenig später kam sie mit einer Plastiktüte, darin eine Assiette mit den erbetenen Linsen, die sie mir für 7 € abgetreten hat. Dass ich die gleich vor Ort essen wollte, hat sie wohl nicht verstanden. Ich bin dann eiligst in die Herberge, damit das Mahl nicht kalt wird und ich es nochmal umtopfen und aufwärmen muss. Die Linsen haben wie erwartet sehr lecker geschmeckt. Kaum war ich fertig, kamen die beiden Italiener, jeder mit einer Assiette in der Hand, aber mit einem Reisgericht bzw. Chorizo als Inhalt.
Als sie mit Essen fertig waren, sind wir nochmal in die Bar gezogen, denn es galt nun, nach über einer Woche würdig Abschied voneinander zu nehmen. Die Beiden wollten am nächsten Tag, also heute, nur den Rest der angefangenen Etappe bis ins 13 km entfernte Medina de Rioseco laufen, da sie erst am Montag in Sahagun sein müssen und auch nicht eher ankommen wollen. Mir waren die 13 km etwas zu kurz. Darum hatte ich schon mal in Tamariz, auf der Hälfte der nächsten Etappe angefragt, ob die Herberge offen ist. Zurück kam, dass die zwar auf ist, dass aber im Dorf ein Fest sei und ich bestimmt nicht viel schlafen könne. Ich solle doch lieber die Herberge im 8 km entfernten Cuenca de Campos nehmen. Alles zusammen so etwa 34 km. Das ist zwar eine Menge, aber besser als 13 km. Da die Beiden der kurzen Strecke wegen ausschlafen wollten, ich aber zeitig los wollte, um der Hitze zu entgehen, hieß es also noch am Abend Abschied nehmen, was uns mit Bier und einem lokalen Kräuterschnaps (wieder mit Bier zum Nachspülen) hervorragend gelang.
Wir hatten auch unseren Spaß dabei, die Leute in der Gaststätte zu beobachten. Am Nachbartisch saßen fünf oder sechs Herren und spielten Karten, wohl sowas wie Pokern. An einem anderen Tisch saßen etwa gleich viele Damen, die an kleinen Käffchen und Limonaden nippten. Um den Anstand zu waren, sind die nicht einzeln ins Wirtshaus gekommen, sondern haben sich draußen gesammelt und sind geschlossen einmarschiert. Da die alle tadellos frisiert waren, muss es in diesem Dorf ohne Kaufmannsladen doch wenigstens einen Friseur geben.
Ich war heute schon vor vier wach, habe mich noch ein paar Mal umgedreht und bin dann raus aus dem Bett. Kurz nach fünf war ich schließlich in der Spur. Da es morgens und fast den ganzen Tag über entlang kaum befahrener Landstraße ging, konnte man auch gut im Dunkeln laufen. Wobei es ja gar nicht so sehr dunkel war, denn ich hatte einen irren Sternenhimmel über mir, an dem kaum ein Fleck leer war. Sowas habe ich schon sehr lange nicht mehr gesehen. Nur der Mond macht sich hier rar. Den habe ich schon vermisst, als wir über die Berge geklettert sind. Da sollte eigentlich Halbmond sein. Und heute, kurz vor dem Vollmond, ist er wieder nicht zu sehen. Beim Stöbern in der Wetter-App habe ich dann gesehen, dass er schon vor fünf wieder untergegangen ist. Der wird wahrscheinlich irgendwo in Brandenburg als Straßenbeleuchtung gebraucht. Hier war es dank des Sternenhimmels zumindest so hell, dass man den fast einen Meter breiten Seitenstreifen ausmachen konnte, den es hier an fast allen Straßen gibt. Außerdem standen zu beiden Seiten der Straße rund einhundert Windräder, alle mit mehreren roten Lichtern besetzt. Das war wie das Spazieren durch ein Rotlichtviertel. In umgekehrter Richtung wäre es unangenehmer zu laufen ge­wesen, denn hinter mir blinkten am Horizont dutzende Windräder mit grellem, weißem Licht.
Um halb neun war ich bereits in Medina de Rioseco, da wo die anderen am Abend nächtigen wollten. Die zu einem Kloster gehörende, aber in einem separaten Gebäude befindliche Herberge ist gleich am Anfang des Ortes hinter einer hohen Mauer. In die trutzige Kloster­kirche konnte man leider nicht reinschauen.
Ein Stück weiter kam schon die nächste Kirche, in der sich jetzt ein Museum befindet. Davor ist ein Denkmal zur Erinnerung an jene Kastilier und Galicier, die sich 1808 leider erfolglos Napoleons Truppen entgegengestellt haben, weil sie niemand aus seiner Sippschaft als König haben wollten. Aber es wurde dann doch ein Bonaparte. Napoleons Familie war so groß, dass die Länder Europas kaum gereicht haben, um jedem Verwandten eins zu geben.
In Medina des Rioseco hätte es noch viel gegeben, was man sich genauer hätte anschauen sollen. Ich habe fast meine Mitpilger beneidet, die dort den ganzen Tag herumstreichen können. Aber ich hätte bestimmt spätestens mittags Hummeln gekriegt. Schön anzusehen war der Plaza Mayor, wo ich mir im Rathaus einen prächtigen Stempel geholt und nebenan in der Bar eine Tortilla gegessen habe. Da wir ja in Castromonte nichts einkaufen konnten, hatte ich zum Frühstück Toastbrot zusammen mit dem Inhalt einer mitgeschleppten Thunfischbüchse gegessen. Das ist wahrlich nicht das optimale Frühstück und hat mir den ganzen Vormittag schwer im Magen gelegen.
Hinter der gewaltigen Santiago-Kirche, die natürlich verschlossen war, bin ich auf die historische Hauptstraße der Stadt gestoßen, die auf beiden Seiten von Arkaden gesäumt ist. Das heißt, die Obergeschosse aller Häuser stehen auf Säulen direkt am Straßenrand. Das waren aber im seltensten Fall stabile Steinsäulen, sondern meist ziemlich verwitterte und schon geschrumpfte Holzpfosten. Da gab es also nicht mehr viele gerade Wände und Böden. Aber alle Häuser schienen bewohnt zu sein und von den Geschäften unter den Arkaden stand kaum eins leer. Man hätte da also wunderbar auf beiden Seiten der Straße unter den Arkaden bummeln können. Viele Geschäfte hatten zudem einheitliche, farbige Holzkisten an oder über der Tür zu hängen, aus denen ersichtlich war, was es drinnen gibt. Eine Kiste war voller Bücher, eine andere bestückt mit Schuhkartons und beim Friseur schauten Fön und Lockenwickler raus.
Ich bin die Hauptstraße wenigstens einmal auf und ab gelaufen und dabei auf eine große Kirche gestoßen, in der sich ein Semana-Santa-Museum befindet, dass mich sehr interes­siert hätte, aber noch geschlossen war. Die „Semana Santa“ ist die „Heilige Woche“ vor Ostern, wo überall im Land Prozessionen stattfinden, bei denen „Kapuzenmänner“ Heiligen­figuren durch die Stadt tragen. Je größer und schwerer die Figuren oder ganzen Figuren­gruppen sind und je mehr Träger dafür benötigt werden, desto größer ist die Ehre für die Stadt und den ausrichtenden Verein. In Santiago habe ich mal fast die ganze Osterwoche mitgemacht, wo es bis zu vier Prozessionen am Tag gab, veranstaltet von verschiedenen, eigens dafür gegründeten Vereinen mit entsprechenden „Vereinsfarben“ der Gewänder und Kapuzen. Die Prozessionen werden stets von Musikkapellen begleitet und mittendrin laufen die kirchlichen und kommunalen Würdenträger.
Das ist in jedem Jahr ein besonderes Ereignis und es liegt nahe, die Figuren auf ihren Postamenten, die Kostüme usw. zusammen mit Bildern der prächtigsten Prozessionen in einem Museum zu zeigen. Schade, dass dieses noch zu war.
In Medina de Rioseco endet ein Arm des Canal de Castilla, der Ende des 18. / Anfang des 19. Jahrhunderts zur Erleichterung des Getreidetransports und zur Bewässerung der Felder gebaut wurde. Ein weiterer Arm führt nach Valladolid. Die treffen bei Palencia aufeinander, von wo ein dritter Arm nach Norden, bis Alar del Rey führt. Dieser wird zwischen Boadilla de Camino und Fromista vom Camino Francés begleitet. Ich erinnere mich noch gut an das angenehme Laufen am Kanal, an die Pumpen, welche das Wasser in die über die Felder führenden Rinnen pumpen und an die Reste der gewaltigen Schleusentreppe bei Fromista. Leider sind die Schleusen wohl sämtlichst nicht mehr intakt, weshalb der mit 8 Meter Breite recht stattliche Kanal leider nicht richtig touristisch genutzt werden kann. Nur auf kurzen Stücken fahren kleine Ausflugsschiffe, so auch in Medina de Rioseco, wo es am Kanalende noch gut erhaltene Reste der Verladeplätze zu sehen gibt.
Ein Zweig des Camino de Madrid, der sich in Medina de Rioseco gabelt, verläuft über viele Kilometer entlang des Kanals, bis dieser kurz vor Tamariz scharf nach rechts abbiegt. Am Wasser ließ es sich gut laufen, zumal die den Kanal begleitenden Bäume etwas Schatten warfen und ein vom Wasser gekühltes Lüftchen wehte. Und natürlich gab es viele idyllische Blicke auf den Kanal, der nur selten von Brücken überspannt wird.
Da, wo der Camino den Kanal verlässt, weil dieser abbiegt, befinden sich die Reste einer Schleuse und einer großen Getreidemühle. Eine Aufgabe des Kanals war nämlich der Antrieb von Getreidemühlen an seinem Ufer. Diese Mühle ist schon lange nicht mehr in Betrieb und von der Schleuse gibt es nur noch das obere Tor, das jetzt als Wehr fungiert. Munter sprudelt da das Wasser aus den zum Befüllen der Schleusenkammer gedachten Öffnungen. Das ist eine kleine Touristenattraktion und deshalb standen da auch ein paar Leute herum. Ein Paar sprach mich an und fragte, wohin ich denn heute wolle. Als ich „Cuenca de Campos“ sagte, stellten sie sich und zwei weitere als Hospitaleros der dortigen Herberge vor. Vier Hospitaleros in einer 18-Betten-Herberge, das ist ja mal was! Darum habe ich die gleich für ein Foto Aufstellung nehmen lassen. Eine Tourismus- oder Wasserwirt­schaftsdame, die mit einem Auto der Provinzialregierung (Junta de Castilla y Leon / Provincia Valladolid) kam und sich dazu gesellte, konnte ich jedoch schlecht aus dem Bild jagen.
Da es inzwischen recht warm und sonnig war, gestaltete sich der restliche Weg als ziemlich anstrengend. Da hat mich ein auf Stelzen gebautes Vogelbeobachtungshaus mit zwei langen Bänken drin schnell zu einem Mittagsschlaf verleitet, zumal es da drinnen angenehm kühl war. Aber der Gedanke daran, dass es im Laufe des Nachmittags immer wärmer wird, hat mich schnell wieder aufgeschreckt und weiterlaufen lassen.
Am Ortseingang von Tamariz fallen einem schon von weitem die Reste eines Kirchturms auf. Es sind drei schon voneinander getrennte, noch in voller Höhe, aber schon recht schief stehende Teile. Zwei Teile bildeten mal die Front des Turms und der dritte ist eine Hälfte der Seitenwand. Es ist sicher nur noch eine Zeit von wenigen Jahren, bis die Teile einzeln oder komplett einstürzen, was aber keine Veranlassung dafür ist, irgendwas abzusperren oder ein Warnschild aufzustellen. In der Bar hing übrigens ein leider undatiertes Luftbild, auf dem der Turm noch intakt ist und nur das Kirchenschiff fehlt. Das Bild ist vermutlich keine fünfzig Jahre alt, das sind also keine mittelalterlichen Kriegsschäden, die man da sieht.
In Tamariz wollte ich eigentlich übernachten, aber wie schon berichtet, hat mir die Betreuerin der kirchlichen Herberge, welche zugleich die einzige Bar im Ort betreibt, geschrieben, dass am Wochenende gefeiert wird und vermutlich an Schlaf nicht zu denken ist. Tatsächlich war auf einem Plateau direkt neben ihrer Bar ein Festzelt aufgebaut, auf dessen Bühne eine größere Musikkapelle Platz hat. Direkt gegenüber ist die Kirche mit der an- bzw. eingebauten Herberge. Da hätte man wirklich was von der Party gehabt – und sogar die 3 € Eintritt zum Festzelt sparen können. In der Übersetzung der mir geschickten WhatsApp heißt es so schön „Hier sind wir auf Partys, wenn sie die ganze Nacht die Disco-Bewegung ertragen …“ und „Denken Sie daran, denn die mobile Festplatte wird bis einschließlich Sonntag unter der Herberge installiert sein.“ Die Festplatte unter der Herberge ist zu schön!
Ich habe mich trotzdem bei der Barbesitzerin zu erkennen gegeben und ihr als Ausgleich für die entgangenen Übernachtungskosten ein kühles Getränk abgenommen. Einen Super­markt, in dem man sich alternativ hätte versorgen können, gab es im Dorf nicht. Als ich schon wieder unterwegs war, habe ich mich geärgert, dass ich nicht darum gebeten habe, mal einen Blick in die Herberge zu werfen, dann die ist sicher interessant geschnitten. Der Eingang ist in einem Anbau auf der einen Seite des Turmes, Fenster sind aber fast ausschließlich in einem Anbau auf der anderen Seite des Turmes. Der muss also irgendwie in die Herberge integriert sein.
Von Tamariz bis Cuenca de Campos bin ich auf der kaum befahrenen Landstraße geblieben, statt den ein paar hundert Meter entfernt parallel verlaufenden Feldweg zu benutzen. Im Gegensatz zu vielen anderen Wanderfreunden laufe ich lieber auf Asphalt, als auf staubigen Schotterwegen, wo man laufend aufpassen muss, dass man nicht in ein Loch oder auf einen größeren losen Stein tritt und sich den Fuß verknackst. Hier kommt noch hinzu, dass die Fliegen in Ermangelung von Kühen und Pferden auf die Pilger gehen, selbst auf frisch geduschte. Und auf den Feldwegen gibt es nicht nur mehr, sondern auch besser trainierte Fliegen, die sich nicht so leicht fangen lassen.
Um halb fünf bin ich nach erneut über 35 Kilometern ziemlich geschafft in der kommunalen Herberge von Cuenca de Campos angekommen, die von den bereits kennengelernten Mitgliedern der „Gesellschaft der Freunde der Jakobswege“ betreut wird. Vor mir war nur ein Pilger da und nach mir kam auch nur noch einer. Beides Spanier, die ziemlich maulfaul sind und sich auch untereinander nicht unterhalten haben. Wir haben uns eins der drei geräu­migen 6-Bett-Zimmer geteilt.
Nach einem kurzen Nickerchen bin ich zur Nahrungsbeschaffung aufgebrochen und musste erfahren, dass der Dorfkonsum nur vormittags drei Stunden offen hat. Die in der Karte vermerkte Kneipe gab es auch nicht mehr, dafür ein teuer erscheinendes Restaurant. Da habe ich beschlossen, dort nur ein erfrischendes Getränk zu mir zu nehmen und zur Sättigung auf das Konserven-Angebot in der Herberge zurückzugreifen, das allen Pilgern zur Verfügung steht. Dafür kann man (wie für die Übernachtung) was in die Spendenbox werfen kann, muss aber nicht. Und ich habe tatsächlich eine Büchse Linsen gefunden, die nach drei Minuten in der Mikrowelle ein ganz leckeres Mahl ergab. Gerettet und getröstet!

Von Madrid nach Santiago de Compostela - Tag 10