Unterwegs von Madrid nach Santiago de Compostela
Tag 15 (Mi, 10.9.2025) - Von Villadangos del Páramo nach Astorga / 29,3 km
Zu gestern wäre noch nachzutragen, dass ich bei der allgemeinen Abendbrotzubereitung einer älteren Dame durch hochgesteckten Daumen mein Lob bezüglich der leckeren Fleisch­scheiben in ihrer Pfanne ausgesprochen habe. Ein paar Minuten später hatte ich die Hälfte davon auf meinem Teller. Das hat wirklich prima geschmeckt. Das Fleisch war fast weiß und so weich, dass man es mit der Gabel teilen konnte.
In der Nacht konnte ich wieder einmal spanische Beleuchtungstechnik studieren. Wenn jemand in den vom Schlafraum abgetrennten Sanitärtrakt trat, der zur Decke hin teilweise verglast ist, dann gingen dort das Flutlicht und die Lüfter an, was den Schlafraum ganz gut mit Licht und Surren ausgefüllt hat. Aber daran gewöhnt man sich und wenn man halbwegs müde ist, schläft man trotzdem ganz gut. Vom Autoverkehr, der am Haus vorbei brauste, habe ich zum Glück gar nichts mitbekommen.
Als heute früh um sechs wieder ein Wecker klingelte, zu dem sich keiner bekannte, bin ich aufgestanden, hab gepackt und bin in den Speiseraum gezogen, um mir dort was zu essen zu machen. Die Überraschung war groß, dass da für alle eindeckt war und schon eine Kanne Kaffee fertig war. Mit Kaffee, Milch, Saft, Toastbrot, Butter, harten Eiern und Marmelade kann man das Frühstück für hiesige Verhältnisse fürstlich nennen. Die Marmelade habe ich durch Wurst und Käse aus dem Rucksack ersetzt und mich schon mal richtig satt gegessen. Das reicht dann in der Regel den ganzen Tag.
Als sich alle aus den Federn gequält hatten, der Weckerbesitzer sicher als Letzter, sah es im Vorraum der Herberge aus wie in einem Feldlazarett. Und es roch auch so. Dicht am Schrank mit Verbandszeug, Medikamenten etc. waren einige dabei, ihre Blasen zu versorgen bzw. geschwollene und anderweitig lädierte Gliedmaßen zu umwickeln. Damit beim Blasen­stechen nichts schief geht, wurde nicht mit Desinfektionsmittel gespart. Das roch wie einst das Jod, das man im Schulsekretariat auf die offenen Wunden gepinselt bekam, wenn man auf dem Schulhof zu sehr getobt hat.
Der Raum war übrigens mit Bildern der 1937 eingeweihten Schule dekoriert. Am 14.9.1977 konnten die Kinder dann jubeln „Hurra, hurra die Schule brennt“. Danach stand die Schule lange als Ruine rum. 1991 ist sie als Pilgerherberge wieder aufgebaut worden. Nach einer Renovierung 2019 kam Corona, weshalb die erneute Einweihung erst 2021 erfolgte.
Von Villadangos bis kurz vor Hospital de Orbigo musste ich zwangsweise weiter an der N-120 laufen, erst dann gab es eine Möglichkeit, der Straße auszuweichen. Bis dahin hatte mich schon ein junger Littauer überholt, der noch dabei war, sich den Fuß zu verbinden, als ich los bin. Der hatte sich zwei Stöcker gesucht und ist mit zusammengebissenen Zähnen marschiert. Einen bestimmten Zielort hatte er nicht, er wollte wie am Tag zuvor bis um vier oder fünf laufen und sich dann was suchen.
In Hospital de Orbigo hat mich wie schon vor drei Jahren die lange Steinbogenbrücke begeistert, die sich über ein kleines Flüsschen und ein breites potentielles Überschwem­mungsgebiet spannt. Am gegenüberliegenden Brückenkopf ist eine Gaststätte, von deren Terrasse aus man jeden sieht, der die Stadt über die Brücke kommend betritt. Für ein Mittagessen war es noch zu früh und was zu trinken gab es auch nebenan im Krämerladen, da musste ich nicht extra einen Kellner bemühen, sondern konnte mich vor die Kirche setzen und schauen, wer da ein und aus geht. Eine Dame mit bretonischen Wimpeln am Rucksack habe ich mir gleich gegriffen und sie ausgefragt. Sie kommt aus Dol de Bretagne, ein paar Kilometer östlich von Saint Malo. Ich glaube, das ist die Grenze zur Normandie. Sie ist im Nordwesten Frankreichs gestartet und läuft jedes Jahr ein paar hundert Kilometer, vermutlich zusammen mit den beiden Damen, die vor der Kirche auf sie warteten.
Ich bin natürlich auch in die sehenswerte alte Kirche, in der eine ältere Dame Aufsicht führte und Pilgerstempel verteilte. Hinter dem Ort ging es dann bis kurz vor Astorga weg von der Straße und damit urplötzlich vom Lärm in die Stille. Das hatte aber als Preis, dass es hoch und runter ging, da der Weg sich über mehrere Hügel hinweg durch die Landschaft schlängelte. Nur zwei Orte lagen an diesem Wegstück, in denen man aber einige Unterkünfte gefunden hätte. Ziemlich passend zur Mittagszeit bin ich in Villares de Orbigo auf eine Gaststätte gestoßen, in der ich mal wieder ein Toast mit Olivenöl und Tomate bekommen habe. Obwohl das so simpel ist, bekommt man das nicht überall.
Nach dem letzten Auf und Ab kam dann auf einem Plateau jene kleine Oase, die ich schon vor drei Jahren bestaunt habe. Auf einem Fleck, der eigentlich nur aus einem halbfertigen Haus und zwei, drei kleinen Hütten besteht, wohnen ein paar vermeintliche Aussteiger, die sich ihren Lebensunterhalt damit verdienen, dass sie den vorbeikommenden Pilgern Getränke, Obst und Backwaren gegen eine Spende anbieten. Ein netter Fleck, auch zum Ausspannen, der mittlerweile sogar auf der Landkarte eingezeichnet ist. Dort habe ich damals David kennengelernt, den ich dieses Jahr im Juni auf der Via Baltica bei Bremen wiedergetroffen habe. Da war er auf dem Weg von Astorga zum Nordkap. Wie ich heute erfahren habe, ist er noch nicht zurück. Ich wünsche ihm „Buen Camino“!
Am Ende des besagten Plateaus steht ein Steinkreuz, das „Crucero de Santo Toribio“, wo die von mir gelaufene originale Wegführung und die Abkürzung entlang der Nationalstraße zusammentreffen. Von hier hat man einen hervorragenden Blick auf Astorga und das noch davor liegende San Justo de la Vega. Deshalb stehen auch unterhalb des Kreuzes so viele steinerne Bänke und Tische. Das ist ein wunderbarer Rastplatz mit unvergleichlicher Sicht. Ab hier geht es auf einer geteerten Straße steil hinunter zur Statue eines erschöpften Pilgers am Ortseingang von San Justo, an die ich mich noch gut erinnern konnte. Auf dem steilen Weg bergab kam mir schnaufend eine Pilgerin entgegen. Die hatte sich nicht verlaufen, sondern wollte noch ein Stück auf dem Camino Francés rückwärts laufen, nachdem sie den Camino del Norte absolviert hat. Übrigens eine Berlinerin.
In San Justo konnte ich mich auch noch gut an die Kirche am Ortsausgang erinnern: eine ganz moderne Kirche mit einem alten Turm in der hier üblichen „flachen“ Ausführung, also nur aus einer Giebelwand bestehend.
Nach einem kurzen Stück entlang der Straße bzw. parallel dazu auf einem Weg hinter den Maisfeldern kam ich an einen Kreisverkehr mit einer großen Muschel und dem Schriftzug „Astorga“ aus Blechbuchstaben davor. Die Kulisse dahinter war längst nicht so schön wie in León, aber als kurzer Gruß an Freunde und Verwandte per WhatsApp-Status war das Bild trotzdem gut geeignet. Nach dem Überqueren der Bahnlinie auf einer Fußgängerbrücke mit endlos langen Rampen waren es nur noch ein paar hundert Meter bis zu der kurzen, steilen Straße, die hoch in die Altstadt von Astorga führt. Oben angekommen stand ich vor der Herberge, in der ich 2022 übernachtet hatte. Dieses Mal habe ich mir eine Herberge dicht bei der Kathedrale, also am anderen Ende der Altstadt ausgesucht und mich dort per WhatsApp angemeldet. Das ist eine von drei Franziskanermönchen betriebene Herberge mit 60 Betten in 30 Räumen, die erst im Juli dieses Jahres eröffnet wurde.
In den kleinen länglichen Zimmern stehen zwei Betten hintereinander. Dazu gibt es einen großen Schank, ein Regal, einen kleinen Schreibtisch und zwei Stühle. Außerdem ist ein Waschbecken im Zimmer. Das ist für eine 10 €-Pilgerunterkunft purer Luxus. Auf dem Flur sind für sechs Zimmer drei Bäder. Auch das ist sehr großzügig bemessen. Im Keller ist die Küche und ein großer Speisesaal, im Erdgeschoss sind u.a. eine Kapelle und ein Auf­enthalts­raum und in den beiden Etagen darüber sind die Zimmer.
Die drei Mönche sind sehr freundlich. Der jüngste von ihnen, der vielleicht gerademal dreißig ist und den Pilgern ihre Zimmer zeigt, wollte sogar meinen Rucksack die Treppen hoch tragen.
Ich teile mir mein Zimmer mit einem Franzosen, Clement aus Lille, der seinen ersten Camino läuft und in Burgos gestartet ist. Da die Kapelle schon mal im Haus war, bin ich abends um sieben zum Pilgergottesdienst, der ganz gut von Amerikanern besucht war. Später, um halb 10 war ich außerdem mit Clement bei der Komplet, das heißt beim Nachgebet der Mönche. Leider war auch das auf Spanisch und fast ohne Gesang. Das kenne ich anders und auf Latein hätte man wenigstens noch ein kleines Bisschen verstanden. Nur das Pilgertreffen um 18 Uhr habe ich mir verkniffen, denn irgendwann musste ich ja auch mal einkaufen gehen.

Von Madrid nach Santiago de Compostela - Tag 15