Unterwegs auf dem Camino Primitivo von Oviedo nach Santiago de Compostela
Tag 3 (Mi, 4.9.2024) Cornellana - Tineo / 30,6 km
In der letzten Nacht habe ich nicht gut geschlafen. Nach dem 4-Uhr-Klogang konnte ich nicht wieder einschlafen, da die Luft im Raum aufgebraucht schien. Erst da habe ich bemerkt, dass der Schlafraum gar kein Fenster hat. Der durch einen Gang verbundene, zweite Schlafraum hat zwar ein Fenster, aber warum sollte die dort einströmende Luft durch den Gang bis in den vorderen Schlafraum und wieder zurück strömen? Die dreht doch (wenn überhaupt) lieber in dem Raum mit Fenster ihre Runde und verschwindet dann wieder nach draußen.

Neben der dicken Luft hat mich mein Schlafsack geärgert. Der hat, warum auch immer, auf beiden Seiten einen Reißverschluss und ich hatte versehentlich beide geöffnet. Da war ich beim Einsteigen schneller auf der anderen Seite raus, als auf der einen Seite drin. Reißverschlüsse und Plastiktüten benutzt man aber im Schlafsaal nur, wenn man die anderen ärgern will. Dazu hatte ich jedoch keine Veranlassung, weshalb ich es tunlichst vermieden habe, am Reißverschluss zu rütteln. Stattdessen bin ich wiederholt links in den Schlafsack rein und rechts wieder raus und hab das Gleiche dann in umgekehrter Richtung wiederholt. Irgendwann bin ich doch noch mal eingeschlummert, aber um sechs war Schluss damit. Ich habe mühevoll im Dunkeln meinen Rucksack gepackt und dabei zutiefst bedauert, dass keine französischen Pilger im Zimmer waren, denn die leuchten, nachdem der Wecker halb sechs geklingelt hat, mit ihren Flak-Scheinwerfern auf der Stirn immer den ganzen Raum aus, vorzugsweise unter lautstarker Konversation. Heute fand nichts dergleichen statt. Es war im Raum stockfinster und totenstill. Da habe ich mich nicht einmal getraut, die Smartphone-Lampe anzumachen und mich gemüht, im knarrenden Bett sitzend beim Einpacken keine Geräusche zu machen. Im Schein des Ladelämpchens meiner Powerbank habe ich meinen Kram zusammengesucht und dabei geflucht, dass ich zwar zur sortenreinen Trennung meiner Sachen und Reiseutensilien vier Mini-Rucksäcke in verschiedenen Farben habe, aber im Dunkeln alle gleich aussehen. Meine Oberbekleidung hatte ich in einem Blechspind ganz ordentlich auf Bügel gehängt, die nun nur unter höchster Konzentration aus dem Spind genommen werden konnten, da jedes Anstoßen an die Spindwände ein schepperndes Geräusch gegeben hätte. In der Zeit, in der ich mit dem Spind gekämpft habe, hätte Egon Olsen vermutlich einen ganzen Franz-Jäger-Tresor leergeräumt. Die Ankleide­prozedur hat auch eine Weile gebraucht, weil es bekanntlich bei jedem Wäschestück mindestens zwei Anzieh-Varianten gibt und entgegen aller Wahrscheinlich­keitstheorie immer erst die falsche dran ist. Als dann alles am Körper bzw. im Rucksack war, habe ich mich doch getraut, mit dem Smartphone-Bildschirm den Tatort nach Überbleibseln abzusuchen. Erst nachdem solche nicht gesichtet wurden, habe ich auf leisen Sohlen den Raum verlassen. Geschafft.

In der Küche schräg über den Hof habe ich mir einen Kaffee aufgebrüht und eine am Tag zuvor gekaufte Riesenschrippe mit Kochschinken und Chorizo belegt. Als der Kaffeepott leer und die Schrippe verzehrt war, wurde es schon langsam hell. Da habe mich auf den Weg gemacht. Am Abend zuvor hatte ich noch Bilder von der eindrucksvollen Autobahnbrücke gemacht, die sich in großer Höhe über dem Tal mit dem Kloster spannt. Mit meiner Vermutung, dass ich die Brücke auch noch von oben zu sehen bekomme, lag ich nicht falsch. Es ging gleich hinter dem Kloster bergauf und hoch bis auf das Niveau der Autobahn und dann sogar noch ein Stück höher. Aber das war von der Steigung her auszuhalten und ich wurde durch schöne Blicke auf das Kloster von oben und hinein in das wolken­verhangene Tal belohnt. Wozu eine Drohne mitschleppen?

Anschließend ging es den ganzen Tag tendenziell immer bergauf weiter. Der Weg war mal gut begehbar und dann wieder von Felsbrocken durchsetzt, auf denen man nur mühevoll vorankam. Um halb elf hatte ich Salas erreicht, wo ich zu meinem ersten Café con Leche kam. Im Zentrum hat die Stadt eine sehr alt erscheinende, leider verschlossene Kirche zu bieten und ein großes Stadttor mit daran anschließenden mittelalterlichen Bauten, die unter anderem von der Universität Oviedo genutzt werden. Hier habe ich ein paar Einkäufe getätigt und als Rochus-Fan die Rochus-Straße nach der gleichnamigen Kapelle abgesucht. Die war natürlich verschlossen und leider waren die Fenster so engmaschig vergittert, dass man kaum hineinschauen, geschweige denn nach drinnen fotografieren konnte. Aber über der Tür war ein Spalt, durch den man mit lang gestrecktem Arm Bilder vom Innern machen konnte. Es war natürlich keine Überraschung, dass da drinnen St. Rochus über dem Altar thronte. Mit diesem Foto „im Kasten“ konnte ich beruhigt weiterziehen.

Hinter der Stadt bin ich auf eine ganz moderne Herberge gestoßen, deren Vorderfront total verglast war, so dass der Schlafraum mit sechs Doppelstockbetten und die Küche mit dem großen Esstisch voll einsehbar sind - am Tage und natürlich abends, wenn Licht brennt. Es ist schon erstaunlich, dass wenigstens die Klo‘s nicht verglast wurden - vermutlich nur, weil für diese an der Frontseite des Hauses kein Platz mehr war.

Während ich da rum schlich und fotografierte, hat mich Janusz eingeholt und wir sind plaudernd zusammen weitergelaufen. Er hat erzählt, dass einer seiner Söhne in Berlin Kontrabass studiert hat und jetzt in Leipzig sein Studium mit alten Instrumenten fortsetzt, zu deren Zeiten es noch gar keine Noten gab. Da muss nun mühevoll ergründet werden, was darauf gespielt wurde. Ein anderer Sohn, der Lehrer ist, veranstaltet nebenbei für Interessenten, wie z. B. für Firmenteams, Seminare dazu, wie man Sushi zubereitet. Das war eine interessante Unterhaltung auf einem holprigen Weg, der immer steiler wurde. Da ich wider Erwarten recht gut vorankam, aber Janusz wegen Problemen mit den Knien nur langsam aufwärts stapfen konnte, haben wir uns irgendwann getrennt, leider ohne vorher ein Bild zu machen. Wir werden uns wohl nicht mehr begegnen, denn Janusz hat wegen der vorab bekannten Knieprobleme doppelt so viel Zeit für den Weg eingeplant als ich. Schade, denn es hat Spaß gemacht, sich mit ihm zu unterhalten.

An einer eigentlich hinreichend ausgeschilderten Weggabelung haben mich zwei Schnell­pilger eingeholt und mir fragend hinterher gerufen, ob der Abzweig, den ich gewählt habe, der richtige sei. Was soll man da antworten? „Nein, ich habe den Abzweig nur gewählt, um Euch in die Irre zu führen!“ - leider habe ich das nicht auf Spanisch rüberbringen können. Ehe die auf der Smartphone-Karte rausgefunden hatten, wo sie sind, war ich schon zwei Wegbiegungen weiter. Dann kamen sie vorbei gehetzt, um sich ein paar Meter weiter mit einer Banane in der Hand niederzulassen. Hektik auf dem Jakobsweg!

Punkt zwei war ich an der Herberge von Bodenaya, die als Kultherberge gilt. Ich habe durchaus überlegt, ob ich dort absteige, um mir selbst ein Bild davon zu machen. Aber es war ja noch so früh am Tag und rings um die Herberge gab es nichts. Die Entscheidung ist mir dann aber durch ein „belegt“- Schild am Fenster der Herberge abgenommen worden.

In den kurz darauf folgenden Orten wären zwar Herbergen gewesen, aber inzwischen hatte ich beschlossen, noch die zwölf Kilometer bis Tineo raufzulegen. In La Espina bin ich an der Hauptstraße auf einen Selbstbedienungsimbiss gestoßen - einen gut 30 Leute fassenden Raum mit Getränke- und Snackautomaten, reichlich Steckdosen und einer top sauberen, geräumigen Toilette. Da konnte man sich prima für die Weiterreise ver- und entsorgen.

Der Weg führte dann wieder von der Straße weg und verlief mitunter ziemlich schlammig am Berghang entlang. In El Pedregal stieß er wieder auf die Straße, wo sogar mal eine Kirche offen stand und mit einem Stempel lockte. Für die restlichen acht Kilometer, auf denen der Camino ohne Ortschaft auf vermutlich schlammigen Wegen wieder hoch und runter, parallel zur Straße verläuft, bin ich auf der AS-216 geblieben, um eine halbe Stunde zu sparen und den Füßen eine Erholung vom steten Auf und Ab zu gönnen. Es hat zwar keinen Spaß gemacht, auf der zum Feierabend relativ stark befahrenen Straße ohne Seitenstreifen zu laufen, aber die Mehrzahl der Autofahrer verhält sich hier sehr rücksichtsvoll und zwingt einen nicht, ständig ins Bankett zu treten. Man muss auch nicht wie bei uns Angst haben, dass im von hinten kommenden Verkehr jemand beim Überholen so weit ausschert, dass er einen am linken Straßenrand fast erwischt.

In Tineo hinein führen drei von einem Kreisverkehr abgehende Straßen, die auf unter­schiedlichen Höhen durch die an einem Berghang liegende Stadt verlaufen. Die mittlere hat mich zur kommunalen 8 €-Herberge „Mater Christi“ geführt, die zwar in der Bewertung nicht gut abgeschnitten hat, aber für den nur noch kurzen Abend ausreichend erschien. Bedauer­licherweise waren da kurz vor sechs nur noch ein paar Plätze im Oberdeck der zwölf Doppelstockbetten frei. Für die max. 24 Leute gibt es leider nur zwei WC und einen winzigen Aufenthaltsraum mit einem Vierertisch, Mikrowelle, Kühlschrank, Wasserkocher und Geschirr, in dem auch noch Waschmaschine und Trockner stehen. Zum Wasserholen oder Geschirrspülen muss man aufs Klo. Aber die Betten sind ganz gut und es gibt Fenster- ich hatte schon befürchtet, dass man bei „Mater“ ein „R“ vergessen hat.

Eine Tücke hat sich erst nachts gezeigt. Das Licht im Vorraum des Schlafsaales, das sich abends nicht ausschalten lies und bei jedem Rein- oder Rausgehen den Schlafraum erhellte, war plötzlich aus. Leider nicht nur dieses, sondern sämtliches Licht, was den Klobesuch inklusive Suche nach der Klopapierrolle in einer Dunkelkammer zum echten Abenteuer macht. Entweder hat hier eine der fiesen Zeitschaltuhren die ganze Herberge von Netz genommen oder ein nahe der Tür und damit laufend im Lichtkegel Liegender hat die Hauptsicherung gefunden. Es wird ja hoffentlich kein richtiger Stromausfall sein, denn das war auf der Via de la Plata der Vorbote des plötzlich einsetzenden Schneefalls.

Leider sind ohne Strom weder Smartphone noch Powerbank geladen worden, weshalb ich mit Strom sparen muss. Wenn ich das hier weggeschickt habe, werde ich wieder den Flugmodus einschalten müssen.

Zum Abendprogramm wäre noch nachzutragen, dass ich beim Einchecken an der „Wandzeitung“ gelesen habe, dass um halb sechs in der nahen, aber auf dem höchsten Punkt der Stadt gelegenen St. Rochus-Kapelle ein Gottesdienst begann. Obwohl abzusehen war, dass ich von dem nichts mehr mitbekomme, habe ich mich schnell auf den Weg gemacht, um vielleicht noch einen Blick in die Kapelle werfen zu können. Und tatsächlich war der wie Don Camillo gekleidete Pfarrer gerade beim Abschließen, aber er hat mich noch einen Blick hineinwerfen lassen. Nun habe ich wieder ein Rochus-Bild mehr in meiner Sammlung.

Danach bin ich auf der am oberen Stadtrand verlaufenden Promenade ins Stadtzentrum gelaufen, um meine Einkäufe zu tätigen. Unter dem Erworbenen war eine Tüte mit klein geschnittenem, lecker aussehendem Gemüse, das man angeblich binnen 5 Minuten in der Mikrowelle braten kann. Das habe ich zum Glück nur mit einem kleinen Teller probiert, denn das Ergebnis war eine gar nicht lecker aussehende und ebenso wenig schmeckende Pampe. Aber roh war der Salat ganz brauchbar, wenn man sich einbildet, dass Gurke statt Zuchini die grüne Komponente bildet. Der Rest war Zwiebel, Karotte und Paprika. Besonders schmackhaft wurde es durch die Zugabe des von mir fast täglich konsumierten Glases eingelegter Piementos-Streifen - was aber auch nichts anderes als Paprika ist.

Camino Primitivo - Tag 3