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Unterwegs auf dem Camino Primitivo von Oviedo nach Santiago de Compostela | ![]() |
Tag 7 (So, 8.9.2024) Grandas de Salime - A Fonsagrada / 25,8 km
Ich muss den Hospitalero in Schutz nehmen, der gestern trotz angeblich voller Herberge noch drei Frauen eingelassen hat. Die drei konnten bzw. mussten auf den Couches im Aufenthaltsraum schlafen. Das hätte ja niemand gestört, wenn da nicht die nervige Jennifer dabei gewesen wäre, die man im ganzen Haus gehört hat. Zu ihr gesellten sich zum lautstarken und vermutlich belanglosen Quatschen noch eine paar Herbergsgäste, die vom Kneipenbesuch zurückkamen. Da wurde es richtig laut. Einer von denen hat sich dann um halb elf sturzbetrunken in das Bett neben mir fallen lassen und sofort ein grauenhaftes Schnarchkonzert begonnen. Da hat es sich mal wieder als nützlich erwiesen, dass ich auf einem Ohr schwer höre. Ich habe das andere ins Kissen gepresst und schon fehlten ein paar Dezibel. Ich hatte nur Angst, dass er sich übergibt und habe deshalb meine Sachen aus dem potentiellen Spuck-Radius entfernt. Er hat sich tatsächlich übergeben, aber zum Glück nicht am Bett, sondern vor bzw. im Klo. Wie ich heute früh erfuhr, haben die beiden jungen Deutschen aus Augsburg bzw. St. Augustin, mit denen ich am Abend kurz gequatscht hatte, die stinkende Hinterlassenschaft beseitigt. Das rehabilitiert sie dafür, dass heute Morgen noch vor sechs ihr Wecker klingelte.
Den Übeltäter habe ich morgens in der Küche angezählt. Er wusste von nichts und war ganz erstaunt, dass er auch von anderen gerügt wurde. Aber es schien, als ob es ihm leid tut - ich habe ihn heute wiederholt getroffen und jedes Mal hat er sich durch Gesten entschuldigt. Es sei ihm also verziehen. Ich bin heute gegen viertel acht aufgebrochen. Da war es noch finster, aber es brannten Straßenlaternen. Am Ortsrand angekommen, hätte es eigentlich schon hell sein müssen, aber es war so dichter Nebel, dass man davon nichts mitbekommen hat. Um die Stolpergefahr zu mindern, bin ich zunächst auf der Straße geblieben und erst in Castro auf den parallel verlaufenden Camino gewechselt. In Castro habe ich in der Jugendherberge, in der ich eigentlich übernachten wollte, meinen morgendlichen Café con Leche und zwei Toastscheiben mit Olivenöl und Tomate zu mir genommen. Die Leute, die dort übernachtet haben, darunter auch Wolfgang aus dem Hunsrück, haben da mehrheitlich noch beim Frühstück gesessen. Ab Castro bin ich auf dem Camino geblieben, auch als dieser nach der letzten Kreuzung vor dem Pass steil nach oben führte, während die Straße kaum ansteigend um den vor uns liegenden Berg herumführte. Das Auf-der-Straße-Laufen ist ja eine Vorstufe des Bus- oder Taxifahrens und wirkt sich bestimmt nachteilig auf den zu erwartenden Ablass aus. Auf der Straße hätte ich vielleicht auch nicht den grandiosen Blick auf das mit Wolken gefüllte Tal gehabt, aus dem ich gerade aufgestiegen bin. Der Blick war fantastisch und wurde mit jedem Höhenmeter spektakulärer. Das Tal war ausgefüllt mit schneeweißen Wolken, die oben eine fast glatte Fläche bildeten. Nicht nur ich habe laufend angehalten, um das zu fotografieren. Später, beim Aufstieg auf über 1100 Meter konnte man zwei aufeinander treffende Täler voller Wolken sehen, dazwischen ein Bergrücken mit einer ganzen Reihe Windräder. An einem überdachten Rastplatz mit Getränkeautomat und Grill (!) habe ich das Mädel wiedergetroffen, das gestern in der Herberge einem Pilger die Beine massiert hat. Sie kommt aus der Gegend von Lissabon und heißt Ines. Wir haben uns ganz nett über die spanisch-portugiesischen Pilgerwege unterhalten. Natürlich habe ich dabei das üble portugiesische Wetter im Oktober vorigen Jahres nicht unerwähnt gelassen. Als ich die dann beim Weitergehen fragte, ob sie Physiotherapeutin sei, hat sie ziemlich pikiert erwidert, dass sie Osteopatin ist. Das muss wohl ein riesiger Unterschied sein, denn ihre Antwort klang so, als hätte ich einen Oberleutnant mit einem Gefreiten verwechselt. Beim Aufstieg bin ich in eine Gruppe von insgesamt etwa 20 Polen geraten, die sich aber schon zerstreut hatte. Darunter war Lydia, eine Deutsch sprechende Polin, die in Braunschweig wohnt. Sie hat in Polen als Grundschullehrerin gearbeitet, später im Emsland als Kindergärtnerin und dann als Altenpflegerin. Dafür hat sie zwar eine Ausbildung gemacht, aber irgendwie kam das Zertifikat zu spät für eine angestrebten Festanstellung (wenn ich das richtig verstanden habe). Zuletzt hat sie in Braunschweig bei einem Call-Center gearbeitet, wo ihr Vertrag aber nicht verlängert wurde, weil sie angeblich zu langsam ist - hier auf dem Camino ist sie ziemlich schnell. Nun geht sie erstmal ein Jahr zurück nach Polen zu ihren erwachsenen Kindern und zu ihrer Mutter. Neben der Ablass-Sicherung gab es für mich noch einen zweiten Grund, den gegenüber der Straße fast hundert Meter höher führenden Camino zu nehmen. Der höchste Punkt (ca. 1100 m) bildet nämlich die Grenze zu Galicien und ich hatte da einen imposanten Grenzstein erwartet. Aber es gab dort weder ein Schild mit der Höhenangabe, noch einen Grenzstein. Es ging einfach plötzlich bergab. Dass ich inzwischen in Galicien bin, war nur am nächsten Markierungsstein zu erkennen: die typische Stele mit Muschel und auf den Meter genauer Entfernungsangabe bis zum Platz vor der Kathedrale in Santiago. Wegweiser mit Entfernungsangaben gab es auch bisher, aber die schienen mir immer geschönt. Ich habe ja schon bei meinem ersten Camino vermutet, dass Kneiper bei den Entfernungen immer was abziehen, um dem Pilger das Gefühl zu verleihen, dass er es fast geschafft hat und unbesorgt nochmal einkehren kann. Nun habe ich die unbestechlichen Entfernungsangaben der galicischen Regierung, die allerdings nur gelten, wenn man den „vorgeschriebenen“ Weg nimmt. Ich will ab Lugo aber einen etwas längeren, alternativen Weg nehmen, der erst später auf den so stark begangenen Camino Francés stößt. Es werden wohl etwas mehr als 330 Kilometer werden. Der besagte erste galicische Stein wies 166 km auf - das heißt, dass die Hälfte geschafft ist und ich sehr gut im Plan liege. Die erste Gaststätte hinter dem Pass war so gut von Pilgern besucht, dass man da eine Weile auf Essen oder Trinken gewartet hätte. Draußen waren schon alle Tische besetzt und drinnen stand eine große Traube an der Theke, um Nachschub zu holen. Statt mich da einzureihen, habe ich mich ein Stück weiter auf einen Stein am Wegesrand gesetzt und bei großartiger Sicht auf das, was vor mir liegt, die mitgebrachte Marschverpflegung inklusive einem inzwischen gut gewärmten Estrella Galicia verzehrt. Großartig. Ich konnte auch getrost alle, die da hinter mir kamen, vorbeiziehen lassen, denn im angestrebten A Fonsagrada gibt es in fünf Herbergen zusammen etwa 180 Betten zum Preis von 10…15 €. Dazu noch einige Hotels. Da wird man schon was bekommen, auch wenn vermutlich alle, die aus Grandas de Salime oder noch weiter weg kommen, hier absteigen werden. Jetzt führt der Weg noch ca. 30 km, also einen Tag, zwischen 700 und 1000 Metern auf und ab. Dann geht es tendenziell nur noch runter. Da stellt sich irgendwie schon das Gefühl ein, es geschafft zu haben - die große Herausforderung der Berge. Aber dass die Tücke manchmal im Detail steckt, hat sich auf den letzten Metern vor A Fonsagrada gezeigt. Die auf einem Bergkamm liegende Stadt war schon ewig zu sehen, aber der Weg blieb lange weit unterhalb der Stadt, bis es dann sehr steil nach oben ging. Da konnte man nochmal richtig ins Schwitzen kommen und ich musste wieder ein paar vermutlich amerikanische Mädels an mir vorbei ziehen lassen. Nachdem ich in der letzten Nacht mit meinem dünnen 15-Grad-Schlafsack etwas gefroren habe und mir Pullover und Handtuch um die Nieren wickeln musste, hatte ich heute mal Lust auf ein Bett mit richtiger Bettwäsche. Ich habe deshalb in A Fonsagrada nicht die 10 €-Herberge „Country Lodge“, sondern die benachbarte Herberge „Cantabrico“ angesteuert, wo das Bett 15 € kostet. Da gibt es nicht nur Bettwäsche, sondern auch hölzerne Doppelstockbetten, die hoffentlich nicht so quietschen wie gestern die Blechmodelle, sowie eine gut ausgestattete Küche. Ob Letztere mir was nützt, war aber nicht abzusehen. Es ist Sonntag und ungewiss, ob man da am Nachmittag was zu kaufen bekommt, das man sich in der Küche zubereiten kann. Um es vorwegzunehmen: ich habe was gefunden. Und zwar in der Tankstelle am Ortsrand, in die ein kleiner Supermarkt integriert ist. Da gab es eine überschaubare Auswahl an Gerichten und Getränken. Ich hatte mich schon mit einer Pizza angefreundet, aber dann gesehen, dass die nicht für die Mikrowelle geeignet ist. Einen Herd gibt es hier leider nicht. Da habe ich eine Tortilla genommen, die man in die Mikrowelle schieben kann. Ich habe leider erst nach der Heimkehr gelesen, dass man die vor dem Erwärmen mit Öl beträufeln soll, das ich leider in der Küche nicht gefunden habe. So war die warme Tortilla zwar nicht staubig, aber doch ziemlich trocken. Ging aber zu essen, war bloß viel zu viel. Da ich keinen Abnehmer für die übrig gebliebene Hälfte gefunden habe, ist die für morgen früh im Kühlschrank gelandet. Zum Ort wäre zu sagen, dass der ziemlich hässlich ist. Lauter einfallslose, mehrstöckige Wohngebäude, nur im Zentrum ein paar Häuser mit Erkern davor, die eigentlich weiter südlich üblich sind. Heute gab es hier irgendein Fest. Auf dem zentralen Platz war ein großes Zelt aufgebaut, unter dem sich ziemlich viele versammelt hatten und ein paar sogar nach der Disko-Musik tanzten, die durch die ganze Stadt schallte. Als ich um acht nochmal durch den Ort gelaufen bin, war da aber schon Schluss. Im Frühjahr habe ich mich in Andalusien schon mal gewundert, dass ein Fest so früh zu Ende war, wo doch hier das Leben erst abends losgeht. Was hier heute gefeiert wurde, habe ich nicht erfahren. Vielleicht irgendein traditioneller Pferdemarkt, denn es waren einige Reiter in der Stadt unterwegs. Im Fernsehen läuft gerade das Nations-League-Spiel Schweiz gegen Spanien. In der ersten Halbzeit saß hier noch eine Handvoll Fußball-Fans und es war gute Stimmung. Jetzt, in der zweiten Halbzeit, sitze ich allein hier. Ich werde mich aber auch gleich aufmachen, denn eigentlich ist es mir egal, wie es ausgeht. Im Moment steht es 1:2 für die Schweiz. |
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Camino Primitivo - Tag 7 | ![]() |
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