Unterwegs auf dem Camino Primitivo von Oviedo nach Santiago de Compostela
Tag 8 (Mo, 8.9.2024) A Fonsagrada - Castroverde / 32,5 km
Heute Morgen ging es in unserem 8-Bett-Zimmer zeitlich ganz gesittet zu. Alle sind ziemlich zeitgleich kurz nach sechs aufgestanden und die meisten haben sich nach dem Einpacken im Frühstücksraum niedergelassen, um noch was zu essen. Erfreulicherweise gab es da sogar einen Kaffeeautomaten. Wenn man schnell ist, schafft man es sogar, während der Kaffee schon zu laufen beginnt, rasch noch eine Tasse aus dem Schrank zu holen und die restlichen Tropfen aufzufangen. Dass der Automat keine Becher liefert, war leider nicht zu erkennen.

Ich habe mir (wieder ohne Öl zum Raufträufeln) die gestern übrig gebliebene halbe Tortilla in die Mikrowelle geschoben, musste also nicht hungrig aus dem Haus. Um viertel acht bin ich raus in die Finsternis, was aber nicht so schlimm war, da bis aus dem Ort hinaus die Straße beleuchtet war. Eine halbe Stunde später, als es eigentlich hell sein sollte, war ohne Laternen nicht viel zu sehen, da es wieder extrem neblig war. Ich bin deshalb zunächst auf der Straße geblieben, statt den parallel dazu am Hang auf und ab führenden, holprigen Weg zu nehmen. Erst als sich beide voneinander entfernten, habe ich pflichtgemäß den aus­geschilderten Camino genommen. Der führte zwar wieder hundert Meter höher als die Straße, bot aber wie gestern hervorragende Aussichten auf die mit Nebelwolken gefüllten Täler. Da oben war es klar und man konnte hinter den Nebelfeldern gut die Gebirgsketten erkennen, die meinen Weg bisher begleitet oder gekreuzt haben.

Leider hat sich der blaue Himmel mit Sonne nicht lange gehalten, sondern schnell zugezogen. Dadurch ist es am Vormittag kälter statt wärmer geworden und irgendwann musste ich mit trotz der Kletterei was übers T-Shirt ziehen. Aber die grandiosen Aussichten haben einen für alles entlohnt. Ich hoffe, dass man auf den Fotos halbwegs was von der Stimmung mitbekommt.

An einem besonders schönen Aussichtspunkt hat man Bank und Tisch aufgestellt. Da saßen Niels und Maxi, die mir schon bekannten jungen Deutschen aus St. Augustin bzw. Augsburg, und haben gefrühstückt und dabei die Szenerie beobachtet. Natürlich blieb der Weg nicht auf einer Höhe, sondern ging stets auf und ab. Hinter einem Kamm ging es mal wieder runter bis in die Nebelwolken, wo erneut kaum was zu sehen war. Kurz vorher konnte man noch bestaunen, wie der Nebel einem Wasserfall gleich über den Kamm in ein Tal abfließt.

In einer kleinen Taverne am Wegesrand habe ich das Mädel wiedergetroffen, das mir vor drei Tagen ihr Zelt leihen wollte. Sie (Manu) hat einen Tag übrig und hilft da in der Küche aus. In der Taverne saß noch ein weiterer von Sehen her Bekannter: Ein Mann mit einem weißen Gewand unter dem Anorak. Als ich unlängst hinter ihm lief, dachte ich, das wär so ein ausgeflippter Typ, der gern in Frauenkleidern rumläuft. Heute war das Teil nicht mehr mit Schlamm bekleckert, sondern strahlend weiß und ich konnte sehen, dass ein riesiger Rosenkranz am Gürtel hängt. Wenn das mal nicht ein Priester oder Mönch auf Pilgerreise ist. Ich habe mich leider nicht getraut, ihn anzusprechen.

In einem kleinen Dorf war wider Erwarten die Kirche nicht abgeschlossen, was sicher ein Versehen war, denn drinnen standen ein Kelch und andere wertvoll aussehende Sachen in der frei zugänglichen Sakristei bzw. im Altarraum. Außer dem Hochaltar gibt es da noch einen zweiten, sehr alt aussehenden Altar mit naiven Darstellungen von Petrus und Jakobus links und rechts neben Jesus. Alle drei haben schon reichlich Farbe verloren, aber irgendwie fand ich die besonders reizvoll, reizvoller als die bunt bemalten und mit viel Gold versehenen Figuren am Hauptaltar. In den Ecken stand Gestühl, dessen Funktion ich nicht ergründen konnte. Es sah fast aus, als wären das tragbare Stühle, denn an den Seiten waren Konstruktionen, die dazu dienen könnten, auf Holme gesetzt zu werden. Fertig wäre die Sänfte. Vielleicht ist in einer solchen Sänfte einst der Bischof von Oviedo aufs „Sternenfeld“ geschleppt worden, wo sein Kollege aus Iria Flavia Dank seiner forensischen Kenntnisse die dort aufgefundenen Gebeine zweifelsfrei als die Knochen des 800 Jahre zuvor verstorbenen Apostels Jakobus identifiziert hatte.

Weiter ging es durch üppig grünen Wald, vorbei an halb verlassenen Siedlungen und zerfallenden Häusern. Vor einem ganz einsam liegenden, aber gut hergerichteten und bewohnten Haus war ein Stand aufgebaut, an dem man sich gegen eine Spende mit Kaffee, Keksen, Saft und Obst versorgen konnte. Es ist schön, dass sich immer wieder Leute finden, die solche Angebote unterbreiten. Hier sah es nicht danach aus, als würde sich jemand so seinen Lebensunterhalt verdienen. Das sah doch eher nach Nächstenliebe aus.

Das Ziel der meisten war heute O Cadavo, etwa 25 km von A Fonsagrada entfernt. Dazwischen finden sich keine Unterkünfte. In O Cadavo gibt es neben einer kommunalen Herberge einige Pensionen und damit vermutlich Platz für alle. Als ich gegen zwei dort ankam, habe ich mich entschlossen, noch ca. 8 km bis Castroverde, dem nächsten Ort mit Herberge zu laufen. Das war nicht ganz ohne Risiko, denn dahinter kommt lange gar nichts. Ich habe mir aber gedacht, dass vielleicht ein Dutzend Pilger vor mir dorthin weitergelaufen ist und dass die mir folgenden hoffentlich in O Cadavo die Nase voll haben und dort bleiben, statt mich noch zu überholen. Die 34 Plätze der Herberge sollten also ausreichen. Da es eine kommunale ist, kann man dort nicht reservieren, was schon mal alle abschreckt, die nur mit Vorbuchungen unterwegs sind. Um es vorweg zu nehmen: als ich gegen 16 Uhr dort ankam, waren erst drei Betten belegt - ein Australier und zwei Franzosen. Jetzt sind wir sieben, mehr werden es auch nicht werden.

Der Weg von O Cadavo nach Castroverde war in vielerlei Hinsicht herrlich. Es ging mit mäßigem Steigungen durch den Wald, mitunter war der Weg von kleinen Bächlein begleitet. Er war sehr still und ich war ganz allein. Da hinter mir keine Verfolger auszumachen waren, konnte ich ganz entspannt meinen Weg gehen. Am Vormittag war ich doch manches Mal genervt von endlos schwatzenden Paaren. Damit meine ich nicht die Ehepaare, denn die haben sich ja meist nicht viel zu sagen. Wenn zwei Spanier, Männer oder Frauen, plaudernd des Weges ziehen, haben alle was davon. Da die nicht nur laut, sondern auch schnell sprechen, müssten sie eigentlich um neun mit dem fertig sein, wofür andere den ganzen Tag brauchen. Aber es geht oft pausenlos weiter bis zum Abend in der Herberge. Da sehnt man sich nach der Ruhe auf der Landstraße. Und tatsächlich bin ich manchmal dorthin geflüchtet, wenn ich wieder in einem Pulk von Endlosrednern gelandet bin.

Die letzten acht Kilometer ganz allein im Wald waren da für mich ein Genuss. Schon auf dem ersten Camino habe ich die Zeit nach 14…15 Uhr schätzen gelernt, weil da die meisten schon in einer Herberge abgestiegen sind und man fast allein auf dem Weg ist.

Die Herberge in Castroverde ist ein ziemlich neuer Bau, der sich mit seiner Holzfassade wohltuend von vielen anderen Neubauten abhebt. Innen ist sie wie alle anderen Herbergs-Neubauten: völlig überdimensioniert. Die beiden relativ kleinen Schlafräume sind umgeben von riesigen Fluren, zwei großen Aufenthaltsräumen und Terrassen. Für jeden potentiellen Gast gibt es dort einen Stuhl und für je vier einen Tisch. Hier könnte man Parteitage abhalten. Die Küche ist wie in allen kommunalen Herbergen zwar technisch gut ausgestattet, aber ohne Töpfe, Geschirr und Besteck. Ohne Topf oder Pfanne kann man mit einem Ceran-Feld leider nichts anfangen. Ich musste mir deshalb bei meinem abendlichen Einkauf was suchen, das man in die Mikrowelle schieben und mit einem Plastebesteck verzehren kann: wieder mal Paella mit Meeresfrüchten.

Der Dorfkonsum hat auf Plakaten mit belegten Brötchen (Bocadillos), Hamburgern etc. geworben. Ich habe mir da für 3,95 € einen Hamburger „Completa“ bestellt. Den hat die Verkäuferin nebenbei in Handarbeit gefertigt. Den Schinken und den Käse, den es zusätzlich zur Beef-Scheibe gibt, hat sie vom Stück geschnitten, Tomate, Zwiebel und Salat aus dem Gemüseregal geholt und den Burger auf einer heißen Platte hinter der Kasse hergerichtet. Und der hat, zusammen mit einem passenden Getränk auf der Bank vorm Laden genossen, hervorragend geschmeckt.

Schräg gegenüber gab es übrigens einen zweiten Supermarkt und daneben ein Schuh­geschäft, in dem ich mich notgedrungen mit neuem Schuhwerk versehen musste. Ich habe heute früh festgestellt, dass einer der ohnehin schon löchrigen Schuhe an der Seite aufgerissen ist. Irgendwann stehe ich vielleicht mal ohne Sohle da. Darum habe ich mir da ein paar preiswerte Laufschuhe gekauft und wie üblich noch was runtergehandelt. Die kann ich anziehen, wenn die anderen vom Fuß fallen. Das sind zwar welche mit diversen Lüftungsöffnungen, aber die Verkäuferin hat mir versprochen, dass es die nächsten zwei Wochen nicht regnet. Da ich meinen alten Schuhen versprochen habe, dass sie noch ein drittes Mal nach Santiago kommen, werde ich jedoch versuchen, mit ihnen auch die verbliebenen 120 km zu laufen - mit den Reserveschuhen im Rucksack.

Graham, der Australier, saß übrigens abends neben mir im Aufenthaltsraum und hat mit einem Foto als Vorlage eine der Kirchen am Wegesrand gemalt. Jeden Tag kommt ein neues Aquarell in sein schön anzusehendes Malbüchlein. Einfach toll, wenn jemand sowas kann.

Camino Primitivo - Tag 8


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