Unterwegs auf dem Camino Primitivo von Oviedo nach Santiago de Compostela
Tag 9 (Di, 10.9.2024) Castroverde - Lugo / 22,3 km (+15,3 km)
Dass ich gestern noch knapp 8 km weitergelaufen bin, hat sich bezahlt gemacht. Nicht nur, dass es bei sieben Herbergsnutzern geblieben ist, während in O Cadavo die kommunale Herberge voll war, sondern auch, dass auf dem Weg nicht viel los war, da insgesamt nur wenige in Castroverde übernachtet haben. Wir sind alle ziemlich zeitgleich kurz nach sieben aufgebrochen und haben uns über den Weg verteilt. Der war richtig schön. Es waren überwiegend feste, glatte Wald- und Feldwege sowie fast unbefahrene, kleine Landstraßen. Wenn es mal an einer Fernstraße entlang ging, dann hat man dort einen breiten Fußweg angelegt. Dort, wo der Platz am Straßenrand knapp war, hat man an der Böschung einen hölzernen Laufsteg auf Stelzen gebaut. Es ging auch überwiegend sehr eben voran, nur gelegentlich mal ein zu überwindender Hügel. Kein Vergleich zu den zurück liegenden Tagen. Es war heute trocken und gelegentlich kam sogar die Sonne raus - alles ideale Wanderbedingungen.
Richtige Orte gab es allerdings nicht am Weg, abgesehen von Gondar, einem kleinen Dorf, das aber nur gestreift wurde. Da hat jemand kurz vor dem Dorf einen ganz ansprechenden Rastplatz mit vielen Sitzgelegenheiten hergerichtet und sich dort mit einem kleinen Obst- und Kaffeestand platziert. Appetit auf Kaffee hätte ich ja gehabt, aber welchen, der wahrscheinlich schon eine Weile in der Thermoskanne rumsteht, mag ich nicht. Dann schon lieber Kaffee aus dem Automaten. Den gab es erfreulicherweise dreihundert Meter weiter. Da hat ein lieber Mensch einen überdachten Rastplatz mit drei oder vier Tischen und Stühlen gebaut und diverse Automaten aufgestellt, darunter auch einen Kaffeeautomaten - sogar einen, der nicht nur Kaffee, sondern auch den zugehörigen Becher liefert.
Unter den wenigen, die heute an mir vorbeigezogen sind, war auch wieder der Mann im weißen Gewand, über das er nicht wie bisher einen dicken Anorak, sondern ein Camino-T-Shirt gezogen hatte. Heute habe ich ihn angesprochen. Es ist wirklich ein Priester, David aus Polen. Er läuft wie ich von Oviedo nach Santiago, nur deutlich schneller. Drum blieb es bei diesem kurzen Wortwechsel und einem Foto. Länger konnte ich bei seinem Schritt nicht mithalten. Ein wenig geplaudert habe ich auch mit einem schwedischen Rentner, der mit seiner spanischen Freundin unterwegs ist. Er ist mit 61 in Rente gegangen, normal ist in Schweden 65. Inzwischen hat er auch schon fünf Caminos hinter sich.
Kurz vor Lugo haben mich Niels und Maxi eingeholt, die in O Cadavo übernachtet haben, aber schon um sechs aufgebrochen sind. Wir sind ein Stück zusammen gelaufen und ich habe dabei erfahren, dass die beiden sich erst hier auf dem Weg kennengelernt haben. Niels fliegt am 18. zurück, weil er am nächsten Tag auf der Arbeit sein muss. Er wird wohl nur mal mit dem Bus nach Fisterra fahren. Maxi hat mehr Zeit und will evtl. zu Fuß nach Fisterra und Murxia. Er war ganz überrascht, als ich ihm erzählte, dass es einen Camino Fisterra gibt und dass man eine Compostela bekommt, wenn man von Fisterra über Murxia nach Santiago läuft, weil das dann über hundert Kilometer sind. Und dass man sich in Fisterra in der (ansonsten nicht zu empfehlenden) kommunalen Herberge eine Urkunde holen kann, wenn man von Santiago dorthin gelaufen ist.
Da die Beiden noch vor Lugo Rast machen wollten, bin ich allein weitergezogen. An einem Autobahnkreuz macht der Camino noch mal einen großen Bogen und taucht dann in einen Vorort von Lugo ein. Gespannt habe ich die Entfernungsangaben auf den Markierungssteinen verfolgt, die immer niedriger wurden und sich der Hundert näherten. Wird es einen Stein mit glatt 100 km geben und wo wird der stehen? Da, wo die „Dorfstraße“ des nicht sonderlich attraktiven Vorortes auf die breite, stark befahrene Rua de San Eufrasio trifft, steht gegenüber mit mannshohen Buchstaben „Lugo 100 km“. Wenn man da nicht gleich vorbei läuft, sondern sich noch umsieht, dann findet man auf dem Mittelstreifen an einem Übergang den üblichen Markierungsstein mit exakt „100,000 km“.
Nun war es nicht mehr weit bis zur Stadtmauer aus der Römerzeit, die zwei Kilometer lang ist und die ganze Innenstadt umschließt. Der Camino führt durch eines der zehn Tore ins Stadtzentrum hinein und schon in der nächsten Gasse auf der rechten Seite stößt man auf die kommunale 10 €-Herberge. Als ich kurz vor halb drei kam, waren erst ein paar Betten belegt. Inzwischen ist sie voll geworden und ich habe viele bekannte Gesichter wiedergetroffen.
Ich habe in der Herberge nur meine Sachen abgestellt und bin dann nach einem kühlen Getränk zu einer Stadtbesichtigung aufgebrochen. Diese begann in der Kathedrale, wo man als Pilger Rabatt bekommt, wenn man denn seinen Pilgerpass dabei hat. Den hatte ich auch vorsorglich eingesteckt, weil ich ja auch einen Kathedralen-Stempel haben wollte. Nach dem, was ich hier schon an Kathedralen zu sehen bekommen habe, war diese etwas dürftig, mal abgesehen vom golden glänzenden Altarretabel und dem prächtigen Chorgestühl. Gegenüber dem Portal der Kathedrale führt der Weg durch ein Tor in der Stadtmauer, das über dem Torbogen in recht verwittertem Stein St. Jakobus als Maurentöter zeigt, was heute schon wegen der Wortwahl als anrüchig gilt. Während der Reconquista, also der Rückeroberung Spaniens aus den Händen der Araber, soll Jakobus in der entscheidenden Schlacht plötzlich mit dem Schwert in der Hand auf einem weißen Pferd erschienen sein und unter den Arabern ordentlich aufgeräumt haben.
Ich bin neben dem Tor die Rampe hoch auf die 6…8 Meter dicke und bis zu 12 Meter hohe Stadtmauer, die durchgängig begehbar ist. Einschließlich der 86 halbrunden Vorbauten ist sie in einem tadellos wieder hergerichteten Zustand und es macht Spaß, darauf zu spazieren, auch wenn nicht jeder Blick in die Innenstadt bzw. in die umliegenden Wohnviertel wirklich was fürs Auge ist. Auch innerhalb der Stadtmauer gibt es viele Brachen und eingefallene Häuser. Die Wohnviertel rings um die Innenstadt bestehen überwiegend aus fünf- und mehrgeschossigen Häusern jüngeren Datums, die weit sichtbar sind, egal aus welcher Richtung man sich der auf einem Berg liegenden Stadt nähert. Durch die hohen Bauten nimmt aber Lugo, die Hauptstadt der gleichnamigen galicischen Provinz, mit fast 100.000 Einwohnern relativ wenig Raum ein.
Vor dem Erklimmen der Stadtmauer hätte ich mich aber erkundigen sollen, wo man wieder runter kommt. Eine Treppe kam sehr bald und die nächste ließ endlos auf sich warten. Ich musste außerhalb der Mauer zu ihren Füßen ein ganzes Stück zurück laufen. Dabei kam ich an einem großen, fast leeren Selbstbedienungsrestaurant vorbei, das geeignet erschien, meinen zwischenzeitlich eingetretenen Hunger zu stillen. Dort habe mir neben einer Erfrischung und einem Café con Leche ein Toast „Mixte“ bestellt. Ich habe zwar für 3 € keine Gourmet-Schnitte erwartet, aber was dann kam, war doch ziemlich enttäuschend, vor allem im Vergleich zum gestrigen Burger. Ich musste die Toastscheiben erstmal auseinander klappen, um zu sehen, ob da was dazwischen ist. Da lagen je eine hauchdünne Scheibe Kochschinken und Käse, wie man sie im 8er-Pack für 1 € im Kühlregal findet: „quadratisch, praktisch, gut“. Das Ganze ist offenbar in einer Pfanne erhitzt worden, die sehr lange kein frisches Öl gesehen hat. Es kann aber auch die Ölwanne eines alten Traktors gewesen sein.
Nach einem kurzen Schläfchen auf der Parkbank, das sich nach jedem üppigen Mahl empfiehlt, bin ich runter zum Rio Niño und auf der Fernstraßenbrücke rüber. Ich hatte nämlich noch einen Ausflug vor.
Nach erneutem Studium von Karte und Herbergsverzeichnis hatte ich davon Abstand genommen, hinter Lugo auf den Camino del Norte (CdN) zu wechseln, um mich so später in den Pilgerstrom auf dem Camino Francés einzureihen. Von Lugo nach Sobrado am CdN sind es über 50 km und nur auf der Hälfte, in Friol, gibt es ein paar Herbergsbetten. Dort zu reservieren habe ich mich gesträubt und auf gut Glück loszulaufen, schien mir zu riskant. Deshalb habe ich mich entschlossen, von Lugo aus den üblichen Weg nach Melide zu nehmen. Damit entgeht mir nur leider das Wegstück entlang des Rio Mera gleich hinter Lugo, das mich in den angeschauten Videos so beeindruckt hat. Als abzusehen war, dass ich schon am frühen Nachmittag in Lugo sein werde, habe ich beschlossen, am Machmittag noch das besonders schöne Wegstück zu laufen und auf einem anderen Weg nach Lugo zurückzukehren.
Ich war zwar wirklich am frühen Nachmittag in Lugo, aber durch die vorstehend aufgeführten Aktivitäten war es inzwischen fast fünf. Ich habe mich trotzdem auf den Weg gemacht und bin auf dem in der Karte als CPN (Camino Primitivo/Norte) eingezeichneten, aber in der Natur nicht markierten Weg runter zum Flüsschen und diesem dann stromaufwärts auf Trampelpfaden und Holzstegen bzw. -treppen durch eine Art Kirnitzschtal gefolgt. Felsen gab es hier zwar nur wenige, dafür aber einen „Lichtenhainer Wasserfall“, der auch ohne Strippe-Ziehen funktioniert. Es war durch die vielen Stromschnellen und Inselchen im beidseits von dichtem Farn gesäumten Bach einfach großartig. Und kaum jemand war auf dem gut ausgebauten Weg unterwegs. Nur ein Paar mit Hunden habe ich auf den 3…4 Kilometern entlang des Baches getroffen. Nach einer Stunde bin ich auf einer kreuzenden Straße raus aus dem Tal und auf einer Fernstraße zu einem parallel verlaufenden Weg, der mich wieder nach Lugo bringen sollte.
Dieser, leider entlang einer stark befahrenen Straße führende Weg ist die „Via Romana XIX“, also die römische B 19. Die ist vor 2000 Jahren angelegt worden, um Galicien zu erschließen. Sie verbindet die etwa zeitgleich von den Römern gegründeten Städte Braga (im Norden Portugals), Lugo (Galicien) und Astorga (Asturien). Sie ist etwa 450 km lang und vielerorts mit goldenen Plaketten, alten Meilensteinen oder neuzeitlichen Markierungssteinen versehen. Auf früheren Caminos bin ich wiederholt darauf gestoßen. Hier fand sich nun außer dem Eintrag in der Karte gar nichts als Hinweis. Erst an der „Punta Romana“, der alten Römerbrücke, die über den Rio Niño nach Lugo hineinführt, fand sich ein mit „Via Romana XIX“ beschrifteter Markierungsstein sowie eine Erklärung zur Brücke und zur darüber hinweg führenden Straße, ergänzt durch einen lebensgroßen, in Blech gekleideten Römer. Eine goldene Plakette mit dem Namen und Verlauf der Straße habe ich erst nahe der Kathedrale gefunden.
Inzwischen war es acht geworden und die Nahrungsbeschaffung stand noch aus. Am Nachmittag hatte ich schon ergebnislos in der Innenstadt nach einem Supermarkt Ausschau gehalten, aber auch außerhalb der Stadtmauer war es nicht einfach, einen zu finden. Als ich dann endlich mit ortskundiger Hilfe einen GADIS gefunden und meinen Einkauf beisammen hatte, wurde es langsam dunkel und Zeit, die Herberge aufzusuchen, da dort um zehn nicht nur die Außentür, sondern auch der Aufenthaltsraum abgeschlossen und das Licht ausgeschaltet wird. Ich wollte aber wenigstens noch im Sitzen und bei Licht essen. Eine Besichtigung musste deshalb leider ausfallen - die des Stadtviertels San Roque (St. Rochus) mit Rochusstraße, -park und -kapelle. Schade.