Unterwegs auf dem Camino Primitivo von Oviedo nach Santiago de Compostela
Tag 11 (Do, 12.9.2024) As Seixas - A Calle de Ferreiros / 36,8 km
Ich freue mich wie Phileas Fogg, der „In 80 Tagen um die Welt“ seine Wette gewinnt, weil er über die Datumsgrenze gereist ist und dabei einen Kalendertag gut gemacht hat. Ich habe zwar nicht die Datumsgrenze überquert, aber trotzdem einen Tag gewonnen. Als bei meinem letzten Quartier in As Seixas „66 km“ auf dem Markierungsstein stand, war ich fest entschlossen, den Rest in zwei Tagen zu laufen und habe schon mal überlegt, was ich mit den restlichen vier Tagen mache, wenn ich am Sonnabend in Santiago ankomme. Irgend ein 100 km-Stück wäre da noch drin, aber die nach Santiago führenden bin ich doch alle schon gelaufen.

Heute dämmert mir bei einem Telefonat, dass ja erst Donnerstag ist und ich somit bereits am Freitag in Santiago sein kann. Da bleiben also fünf Tage bis zum Rückflug am nächsten Donnerstag (19. September). Damit kann man schon was anfangen, zum Beispiel die „spirituelle Variante“ des portugiesischen Weges laufen, die ich im vorigen Jahr nicht gehen konnte, weil es so permanent geregnet hat, dass man von den Kirchen und Klöstern auf diesem Wegstück nichts gehabt hätte. Wie genau ich es dieses Mal anstelle, werde ich mir morgen unterwegs überlegen. Wenn morgen, am Freitag, den 13. (!), alles klappt und ich so zeitig in Santiago bin, dass ich mir noch meine Pilgerurkunde (Compostela) abholen kann, setze ich mich vielleicht noch abends in den Bus nach Pontevedra oder Vigo und mache mich dort am nächsten Tag auf diesen Weg. Ich freu' mich schon darauf.

Nun aber zum heutigen Tag. Ich wollte von den 66 km nach Santiago möglichst viel schaffen, damit für morgen nur so viel bleibt, dass ich am frühen Nachmittag am Ziel bin. Da traf es sich gut, dass bei meinem Nachbarn der Wecker klingelte, während der auf dem Klo war. Ich bin aus dem Bett und habe meinen Kram gepackt - sehr heimlich, damit niemand denkt, ich hätte meinen Wecker bimmeln lassen. Aber ich glaube, dass alle noch vor sieben aufgestanden sind. Wenn ich niemand übersehen habe, waren wir nur 10 Leute in der Herberge. Das ist einer der Vorzüge des „Asynchron-Laufens“, das darin besteht, nicht dort abzusteigen, wo es die Pilgerführer empfehlen, sondern einen Ort weiter. Dann hat man erstens zwischen dem empfohlenen und dem selbst gewählten Etappenziel den Weg fast für sich allein, trifft zweitens auf eine wenig belegte Herberge und hat drittens am nächsten Tag den ganzen Vormittag seine Ruhe auf dem Weg, bis man von den Leuten eingeholt wird, die da abgestiegen sind, wo es der Pilgerführer empfiehlt. Das war in Castroverde (statt O Cadavo) so, gestern in As Seixas (statt Ferreira) und um es vorweg zu nehmen, auch heute in A Calle de Ferreiros (statt Arzua).

Als ich kurz nach sieben aus der Herberge trat, hat es leider geregnet. Nicht sehr heftig, aber doch so, dass der Regenponcho angesagt war. Ich habe mir am Automaten vor der benachbarten Herberge noch einen Kaffee geholt und bin dann los. Auf den ersten paar Metern erhellten noch Laternen den Weg, aber ab dem Dorfrand war es stockfinster. Da half nur die Smartphone-Lampe. Die Sorge, dass dabei der Akku schlapp macht, erwies sich als unbegründet. Ich hatte mindestens zwanzig Minuten die Lampe an und es fehlten nur 3% der Batterieladung. Mit einem vollen Akku kann man also durchaus mal eine mehrstündige Nachtwanderung machen.

Apropos Nachtwanderung. Mein Weg führte heute früh im Regen durch einen stockfinsteren Wald. Da habe ich zur Aufmunterung das bekannte Kinderlied „Im Wald da sind die Räuber“ vor mich hin gesummt - den Text habe ich nicht mehr komplett parat.

So gegen zehn habe ich in einer Bar am Wegesrand, wo sich fast die gesamte Herbergs­belegung wiederfand, neben einem Café con Leche auch eine Empanada, das heißt eine Teigtasche mit was drin bekommen. In diesem Falle war es Schinken.

Der weitere Weg erwies sich dann doch als hügeliger als gedacht. Da ging es gar nicht so schnell vorwärts wie erhofft. Als die einstürzenden Häuser nicht mehr einzeln, sondern dicht nebeneinander, gemischt mit noch bewohnten, am Straßenrand auftauchten, war Melide erreicht. Im Stadtzentrum sieht es zum Glück nicht ganz so trostlos aus. Da gibt es ein paar sehenswerte alte Gebäude rings um den Praza do Convento, eine Geschäftsstraße und reichlich Kneipen. Hier stößt nämlich der Camino Primitivo auf den Camino Francés, auf dem Polonaise angesagt ist. Da strömten Heerscharen durch die Gassen, manche nur mit kleinem Ränzlein auf dem Rücken, weil das Gepäck Taxi fährt, andere zwar mit Rucksack, aber leicht erkennbar erst in Sarria, 100 km vor Santiago gestartet. Vom Pilgern war da nicht viel zu erkennen, bei manchen eher von einer räumlich etwas ausgedehnten Kneipentour. Gegen diesen „Pilgerzug“ ist der Rennsteiglauf eine tiefreligiöse Veranstaltung.

Die kleinen Orte am Weg sind aber ganz gut auf die Massen eingestellt und profitieren davon, wie zum Beispiel Ribadiso de Abaixo, kurz vor Arzua. Das winzige, am Rio Iso gelegene Dorf besteht eigentlich nur aus schönen, alten, liebevoll hergerichteten Herbergen und Gaststätten. In der urigen kommunalen Herberge, direkt am Wasser gelegen, habe ich vor zweieinhalb Jahren auf meinem ersten Camino übernachtet. Um endlich ans ersehnte Ziel zu kommen, bin ich damals die mehr als vierzig Kilometer von dort nach Santiago durchgelaufen. Dieses Mal hatte ich hier schon fast dreißig Kilometer unter den Sohlen, da stand eine baldige Übernachtung an. Das wenig sehenswerte 6.000-Einwohner-Städtchen Arzúa mit (lt. Pilgerführer) 35 Herbergen, Pensionen und Hotels kam dafür aber bei mir nicht in Frage. Dort hat sich der ganze Tross niedergelassen, mit dem ich bis in die Stadt laufen musste. Da waren so gegen 16 Uhr schon viele Kneipen gerammelt voll und man kann sich leicht vorstellen, was da abends und in der Nacht los ist. Witzig war stets der Blick in die Foyers der Herbergen, wo sich die per Gepäck-Taxi angelieferten Rollkoffer der Light-Pilger stapelten.

Getreu dem Prinzip des asynchronen Laufens bin ich noch bis in den nächsten, 8 km entfernten Ort mit Herberge gelaufen: A Calle de Ferreiros. Getroffen habe ich in den zwei Stunden dorthin außer Michaela aus Göteborg kaum jemand. Die junge Schwedin, die hervorragend Deutsch spricht, war in As Saixas in der benachbarten Touristenherberge, wo ich sie auf der Suche nach dem (leider falsch bestückten) Getränkeautomaten kennengelernt habe.

Die Herberge „A Ponte“ in Ferreiros kannte ich schon, da bin ich im vorigen Jahr nach dem Camino del Norte, der in Arzúa auf den Hauptweg trifft, abgestiegen. Ich nehme auch im Urlaub selten das gleiche Quartier nochmal. Aber hier bot es sich an, da es schon spät und ich hungrig war. Hier kann man nämlich nicht nur gut schlafen, sondern auch ordentlich essen. Außerdem waren erst 5 Pilger vor mir in der Herberge: ein junges deutsches Paar, ein John und seine Frau aus Amerika und eine Schweizerin. Da habe ich sogar noch ein Bett im Unterdeck bekommen. Das 12 €-Tagesmenü mit galicischer (Kohl-) Suppe und Lende an Pommes samt Bier und Eis als Nachtisch war auch wieder gut.

Camino Primitivo - Tag 11