Unterwegs auf der Variante Espiritual des Camino Portugues von Vigo nach Santiago
Tag 1 (Sa, 14.9.2024) Vigo - Pontevedra / 24,9 km
Der heutige Tag war einfach großartig. Ich habe gut geschlafen und hatte morgens keine Eile, weil sonnabends die erste Fähre von Vigo nach Moaña erst um 8.30 Uhr geht. Da war zuvor sogar noch Zeit für einen Kaffee, aber es war gar nicht so einfach, morgens um acht eine offene Kneipe zu finden. Hier gibt es zwar auch viele Pilger, aber die sind nicht so dominant, dass man wegen ihnen die Öffnungszeiten ändert. Ich habe aber doch eine gefunden, die neben einem Café con Leche sogar noch eine Empanada, d. h. eine Teigtasche zu beiten hatte, in diesem Fall mit zerhacktem Huhn.

Die Fähre kam und fuhr pünktlich und hat mich für 2,40 € ans andere Ufer der Ria de Vigo gebracht. Sie war fast leer. An Rucksackträgern war außer einem Pärchen, das Rückfahr­karten gekauft hatte, nur ein einzelner Herr an Bord, der nach dem Aussteigen in die gleiche Richtung lief und mich ansprach: Fernando, ein in Spanien geborener Schweizer, der wie ich von Moaña schräg über die Halbinsel nach Pontevedra laufen wollte. Dieser Weg ist zwar als Variante des Camino Portugues in den Online-Karten verzeichnet, wird aber in keinem Pilgerführer erwähnt und ist nur spärlich ausgeschildert.

Weil außer uns kein Anwärter für diesen Weg auf der Fähre war und kaum zu erwarten war, dass jemand noch später übersetzt und losläuft, war klar, dass wir allein auf dem Weg sein werden. Da Fernando verkündet hat, dass er ganz gemütlich gehen will, was bei mir die schnellste Gangart ist, war abgemacht, dass wir zusammen laufen. Und das war auch angebracht, da man diesen Weg, der zwar nicht hals-, aber beinbrecherisch ist, lieber nicht allein laufen sollte.

Es ging erst ein Stück entlang des Ufers gen Osten und dann links ab in die Berge. Etwa fünf Kilometer ging es entlang des kleinen Flüsschens La Fraga stets bergauf bis auf über 400 Meter Höhe. Die ersten etwa drei Kilometer führten auf einem gut ausgebauten Weg und über viele Treppchen, Brücken und Stege stets bergauf, was man aber gar nicht so wahrgenommen hat. Auf diesem Stück kam man an den Resten von 30 Wassermühlen vorbei. Hier stand also früher mal alle 100 Meter eine Mühle. Der kleine Bach mag genug Wasser geliefert haben, aber es stellt sich die Frage, was die Leute da einst gemahlen haben, da ja hier kaum Getreide angebaut wird.

Die mitunter tief eingeschnittene Schlucht mit dem munter dahinplätschernden, glasklaren Fluss war nicht nur wild romantisch, sondern hatte mit den Mühlenresten auch was Mystisches. Außer dem Plätschern des Bächleins, das sich mit vielen Stromschnellen und kleinen Wasserfällen in die Tiefe stürzte, war nichts zu hören - da ja ein Smartphone bei aus­geschaltetem Ton beim Fotografieren keine Geräusche macht. Denn fotografiert haben wir beide wie verrückt. Hinter jeder Kurve ergab sich eine andere Perspektive auf das großartige Naturschauspiel. Zwischendurch haben wir beide uns immer wieder verbal auf die Schulter geklopft und uns dafür gelobt, welch tollen Weg wir da entdeckt haben. Und wir haben uns versprochen, davon nichts weiter zu erzählen, damit dieser schöne Weg nicht irgendwann mal genauso überlaufen ist, wie andere Caminos rings um Santiago. Also, bitte nach dem Lesen sofort vergessen!

Bis auf eine Handvoll Jogger und Gassigänger ist uns auf dem Weg entlang des Rio La Franga niemand begegnet. Hier stehen am Weg mehr Bänke, als auf 100 km Camino Francés, die wenigen großen Rastplätze ausgenommen. An jeder Biegung des schmalen, steil aufwärts führenden Weges hätte man sich hinsetzen und den munter bergab plätschernden Bach bewundern können.

Wir waren so vom Weg entlang des Flüsschens begeistert, dass wir den Abzweig zum parallel verlaufenden Wanderweg verpasst haben. Unser Weg wurde immer schmaler und irgendwann war es erforderlich, auf dem dicken Felsbrocken im Lauf des Baches aufwärts zu kraxeln. Dabei ist Fernando ausgerutscht und rücklings, mit dem Rucksack zuerst, in ein Wasserbecken gefallen. Um dort rauszukommen, musste er sich auf den Bauch drehen, womit das Vollbad komplett war. Zum Glück ist ihm nichts passiert. Dass er pudelnass ist, hat er mit Humor genommen. An der nächsten Sitzgelegenheit hat er das Wasser aus seinen Schuhen geschüttet und als wir den richtigen Weg gefunden und auf diesem zu einem sonnenbeschienenen Rastplatz gekommen sind, hat er die Prozedur wiederholt und auch noch seine Socken ausgewrungen. Hätte er meine Schuhe angehabt, wär‘ das Wasser von allein durch die Löcher abgelaufen. Hose und Hemd hat er im Wind trocknen lassen, das Smartphone hat den Tauchgang überlebt und in der kleinen Kneipe oben auf dem Berg hat man auch seinen in der Brieftasche nass gewordenen Geldschein genommen. Er meinte, dass er nun wenigstens was zu erzählen hätte. Natürlich waren wir beide froh, dass nichts weiter passiert ist. Diese ansonsten wunderschöne Tour, deren Kletterteil an das offiziell nicht zugängliche Ende der Edmundsklamm erinnert, sollte man wirklich lieber nicht allein machen.

Nach dem Abstieg und der Unter- bzw. Überquerung von Auto- und Eisenbahn haben wir vergeblich den Abgang zur Camino-Variante entlang des Rio Temeza gesucht. Als wir ihn gefunden hatten, sahen wir, dass der völlig zugewuchert und unpassierbar ist. Da mussten wir weiter in glühender Hitze auf schattenlosem Weg entlang der Bahnlinie laufen, bis sich eine Querung auf den offiziellen Weg anbot, der entlang der Hauptstraße durch die Orte verläuft. Dort musste ich sehen, dass recht viele Pilger nach Pontevedra und damit auf meine Herberge zustrebten. Da habe ich nur schnell mit Fernando einen Treffpunkt ausgemacht und dann einen Schritt zugelegt. Ich bin zwar normalerweise ein sehr langsamer Läufer, aber wenn es darum geht, Bettkonkurrenten auszuschalten, kann ich ziemlich bedeutsame Laufleistungen hervorbringen. Auf den verbleibenden zwei Kilometern bis zur Herberge konnte ich noch 13 potentielle Bewerber um eine Schlafstätte ausstechen.

Ich habe mein Bett bekommen, sogar noch im Unterdeck und bin, nachdem ich dieses in Beschlag genommen hatte, mit Fernando zu dessen Hotel gelaufen, wo wir noch ein Abschlussbier auf unsere Abenteuertour getrunken haben. Es hat Spaß gemacht, den Tag zusammen zu verbringen. Fernando ist übrigens in Santander geboren und in Spanien aufgewachsen. Zum Studium ist er nach Zürich gegangen, wo er jetzt bei einer Bank im IT-Bereich arbeitet. In eineinhalb Jahren wird er mit 65 in Pension gehen. Er hat drei Söhne, die schon aus dem Haus sind und studiert haben oder gerade dabei sind. Da er noch nie in Berlin war, wird er hoffentlich mal meine Einladung in die Nähe der von Jakobswegen umgebenen deutschen Hauptstadt annehmen.

Variante Espiritual - Tag 1 (13)