Tag 18 (So, 29.10.2023) Barcelos - Vitorino dos Piães / 19,3 km
Der Tag begann mit einem bangen Blick auf mein Smartphone. Ich hatte es über Nacht ausgeschaltet und bewusst nicht aufgeladen. Und siehe da, es ließ sich wieder zum Leben erwecken und verhielt sich halbwegs normal. Lediglich beim Anschauen von Bildern oder Chats hatte es immer das Verlangen, nach oben zu scrollen. Darum habe ich nur schnell ein Lebenszeichen abgesetzt und dann das Smartphone wieder ausgeschaltet. Das sind so die Momente, bei denen einem bewusst wird, wie abhängig man von diesen Dingern ist. Nun musste ich also vielleicht einen ganzen Tag nicht nur auf ein- und ausgehende Nachrichten verzichten, sondern sich auf den Blick auf die Uhr, die Karte, das Herbergsverzeichnis, die Streckenaufzeichnung und vor allem aufs Fotografieren. Auf die Karte meinte ich verzichten zu können, da der Camino hervorragend ausgeschildert und für Halbblinde zusätzlich mit gelben Pfeilen an den Straßenecken und an jedem zweiten Strommasten markiert ist. Aber schon 200 Meter hinter der Herberge hatte ich ein Problem, weil der Weg wegen Bauarbeiten gesperrt war und zwar unüberwindlich. Wenn man da ohne Karte dasteht, ist es gar nicht so einfach, eine Umgehungsvariante zu finden.
Das Wetter war wie üblich: mehr oder weniger starker Regen, zumindest bis ich aus dem Tal heraus war, über dem die dicken dunklen Wolken hingen. Über Mittag gab es dann sogar mal etwas blauen Himmel und Sonnenschein. Da habe ich mich getraut, das Smartphone herauszuholen und immer mal ein Photo zu machen. Lufttrocknung kann ja auch nicht schaden, sofern mal etwas trockener Wind weht. Raoul, der mich am Vormittag überholte, hat mich auf die Idee gebracht, das Smartphone zum Trocknen in Reis zu legen. Er als Reisanbauspezialist muss das ja wissen. Da hätte ich aber auch selbst drauf kommen können, schließlich hat man doch früher immer ein paar Reiskörner in den Salzstreuer getan, damit das Salz trocken bleibt und nicht klumpt. Aber leider war da unterwegs nichts aufzutreiben, zumal ich bis zum Ziel nur auf eine Einkehrmöglichkeit getroffen bin - eine Bäckerei. Zum Nachmittag kam wieder der übliche Regen auf und damit die Notwendigkeit, sich häufig unterzustellen. Meine wage Absicht, es bis ins 34 km entfernte Ponte de Lima zu schaffen, hatte ich da schon längst begraben. Nach etwa 22 km bin ich in Vitorino dos Piães in der „Acogida Casa da Fernanda“, also in Fernandas Haus abgestiegen. Das gilt in manchen Pilgerführern zu Recht als Kultherberge. Zum Glück habe ich kurz vor der Ankunft angerufen, ob ich ein Bett haben kann, denn zeitgleich mit mir sind da einige angekommen, darunter Rainer und Felicitas, die damit die etwa acht Kilometer aufgeholt hatten, die sie für die letzte Nacht vor mir ausgestiegen waren. Außerdem die beiden Bamberger, meine beiden Zimmergenossen aus Barcelos. Die junge Holländerin war schon da. Aber Fernanda, die nette Wirtin hat niemand weggeschickt, auch nicht als die 10 Betten in dem großen Blockbohlenhaus belegt waren. Irgendwie hat sie alle untergebracht. Volker, den ich in Barcelos als leidenschaftlichen Schnarcher kennengelernt habe, hat zum Beispiel freiwillig ein Bett im Freien genommen: ein Doppelbett unter dem rückseitigen Dachüberstand des Blockhauses, das bei schönen Wetter gern von Verliebten benutzt wird. Vor dem Blockhaus war auch ein großer überdachter Platz mit Sesseln und Couches. Da haben sich erst mal alle Ankommenden versammelt und bei Wein und Tee gelauscht, was Fernanda in fließendem Englisch über die Macken schon da gewesener Gäste zu berichten hatte. Zwischendurch hat sie auf einem kleinen Herd unter der Überdachung in der Pfanne aus Kartoffeln eine Art Pfannkuchen und dann noch die von mir so geliebten Pimientos Padron (Grillpaprika) bereitet.
Wir waren ein ganz lustiges Trüppchen: 7 Deutsche, 2 Italiener (ein älteres Ehepaar), die Holländerin, 2 Amerikaner (Vater und Sohn aus Colorado) und später noch ein Brasilianer. Bis auf Felicitas sind alle in Porto gestartet. Hier sind also schon deutlich mehr Pilger unterwegs als zwischen Lissabon und Porto.
Am Abend wurden wir dann alle in Fernandas Wohnhaus gleich nebenan gebeten, wo sie zusammen mit ihrem Mann schon die lange Tafel in der Wohnküche gedeckt hatte. An die Tafel hätten sogar noch ein paar mehr gepasst. Es ist niemand unter uns gewesen, der nur Übernachtung mit Frühstück (20€) wollte. Alle hatten wohl schon von Fernandas Koch­künsten gehört und gern die 5€ fürs Abendbrot raufgelegt, zumal es im Ort keine Alternative gegeben hätte. Die nahe Taverne, wegen der ich bei der Ankunft einen kleinen Umweg gemacht habe und mein Bier im Stehen trinken musste, weil die mit ca. 60…70 Gästen bis auf den letzten Platz belegt war, hatte offenbar nur über Mittag offen. Die Bamberger, die dort am späten Nachmittag noch ein Bier trinken wollten, standen vor verschlossener Tür.
Also, Fernanda und ihr Mann haben uns sehr gut bekocht (Kürbissuppe und ein Hühner­gericht mit verschiedenen Beilagen) und bewirtet. Hinterher kam auch noch ein Sortiment Portwein auf den Tisch, was der Heiterkeit nicht abträglich war. Es hat wirklich riesigen Spaß gemacht, über alle Sprachbarrieren, Länder-, Alters- und Geschlechtergrenzen hinweg zu plaudern. In einer kurzen Tischrede hat Fernanda auch dazu aufgefordert, in Hinblick auf die Ukraine und den Nahen Osten den Camino für den Frieden in der Welt zu gehen. Die vielen Deutschen haben Fernandas Mann dazu veranlasst, zwischendurch mal seine Textsicherheit bei „Marmor, Stein und Eisen bricht“ unter Beweis zu stellen. Trotz herumgereichter Gitarre wollte leider niemand sonst einen musikalischen Beitrag leisten. Erst kurz vor zehn sind wir alle satt und voll des guten Weines in den Betten verschwunden. Es war ein wunderschöner Nachmittag und Abend, wie man ihn leider nur selten auf dem Camino erlebt.

Camino Portugues Central - Tag 18