Unterwegs auf dem Ökumenischen Pilgerweg entlang der Via Regia
Anreise nach Görlitz

Tag 0 (Sonntag, 4.6.2023) - Anreise nach Görlitz

15.00 Uhr. Ich sitze im RE 2, der mich vom Berliner Ostbahnhof (ab 14.35 Uhr) nach Cottbus (an 15.54 Uhr) bringt. Von Cottbus geht es dann (ab 16.05 Uhr) mit der RB 65 nach Görlitz (an 17.15 Uhr).

In Görlitz habe ich mir ein Bett in der CVJM-Herberge „Peregrinus“ reserviert, die zentral gelegen sein soll. Entgegen meiner Gewohnheit in Spanien habe ich auch für die nächsten Nächte Unterkünfte angefragt bzw. gebucht, vor allem für die Tage, an denen ich mit Markus unterwegs bin, um mir nicht irgendwo im Nirgendwo die Bank in einer Haltestelle mit ihm teilen zu müssen.

Dem ersten Anschein nach und den Berichten anderer Pilger zufolge ist es aber nicht nötig, im Voraus etwas zu buchen. Es gibt in relativ kurzen Abständen Unterkünfte bei Privat­personen, in Pfarrhäusern und vereinzelt auch in richtigen Herbergen. Und oftmals auf Spendenbasis. Ich werde schon was finden. Es wird aber auf jeden Fall anders sein, als in Spanien. Ich glaube nicht, dass ich hier auf eine größere Anzahl an Mitpilgern treffe.

Was das Wetter betrifft, kann ich eigentlich sehr zufrieden sein, da zumindest für die kommende Woche kein Regen angesagt ist. Das hätte mich fast dazu verleitet, das relativ schwere Regencape zuhause zu lassen. Aber da schönes Wetter oftmals in einem Unwetter sein Ende findet und einen dieses Unwetter mit großer Wahrscheinlichkeit auf freiem Feld, weitab von irgendeiner Einkehrmöglichkeit erwischt, habe ich es doch zähneknirschend eingepackt. Als Trost habe ich mir gesagt, dass dieses auch schon bei Übernachtungen im Freien gute Dienste geleistet hat und vielfältig verwendbar ist. Die Temperaturen und die herrschende Trockenheit machen es aber viel wahrscheinlicher, dass man von einem Feld- oder Waldbrand ausgebremst wird, als dass man durch strömenden Regen wandern muss.

Der Zug kam wider Erwarten sehr pünktlich in Cottbus an und auf der anderen Bahnsteig­seite wartete schon der aus zwei ODEG-Triebwagen bestehende Zug nach Zittau, der mich nach Görlitz bringen wird. Im Zug ist eine ganze Gruppe jugendlicher Pfadfinder. Die stören aber weniger als das Kleinkind hinter mir, das seine ersten Sprechversuche macht und sich freut, wenn es mit seiner Stimme die Inneneinrichtung des Zuges zum Vibrieren bringt. Und wenn die/der Kleine mal eine Pause macht, dann fällt der Vater mit den verschiedensten Tierstimmen in das Konzert ein.

Hinter Cottbus ging es lange durch dichten, noch nicht von Waldbrand betroffenen Kiefernwald. Und wenn sich eine Lichtung auftat, dann war die mit Solarfeldern belegt. Dafür war bis jetzt noch kein Windrad zu sehen. Schön flach sieht es aus, wenn man aus dem Fenster schaut. Ich hoffe, das bleibt recht lange so. Mit dem Rucksack auf dem Rücken werde ich wohl nie ein Bergfreund werden. Aus unerfindlichen Gründen ist mein Rucksack dieses Mal wieder ziemlich schwer geworden: 7,7 kg ohne Verpflegung und Getränke. Dazu kommt dann noch das Starterpack „Ernährung“, das so bemessen ist, dass es mindestens noch den morgigen Tag abdeckt. Gerade kam der Schaffner auf dem Rückweg vom Fahrkarten-Lochen vorbei und hat nach Getränkewünschen gefragt. Ich habe mir eine Bloody Mary bestellt und er ist nickend und etwas (vermutlich Sorbisch) vor sich hin brubbelnd in seinem Kabuff verschwunden. Ob der da wirklich eine Bar hat? Gerade kam er nochmal auf der Suche nach ungelochten Fahrkarten vorbei. Ich habe dabei meine Bestellung mit „gerührt, nicht geschüttelt“ konkretisiert. Er meint, er kriegt das hin. Hoffentlich vergisst er nicht die Prise Pfeffer als Krönung.

Soeben ging es durch Weißwasser, wo zu DDR-Zeiten der Dauer-Rivale der Eisbären beheimatet war. Mehr als diese zwei Mannschaften gab es allerdings nicht. Kurz vor Görlitz war zunehmend Landwirtschaft zu sehen - große, frisch bestellte Felder auf beiden Seiten. Dazwischen kleine Dörfer mit verlassenen Bahnhofsgebäuden. Hinter Horka fielen mir erstmals Kirchen mit Zwiebeltürmen auf. Die sehen immer lustig aus. Wenn es hier mal durch Wald ging, dann war das Laubwald. An der Giebelwand einer alten Fabrik stand noch in großen, vermutlich frisch nachgemalten Lettern „VEB Kodersdorfer Werke“. Laut Wikipedia wurden da einst Dachziegel und Klinker hergestellt.

So, nun bin ich gleich in Görlitz, das mit der Bloody Mary hat der Schaffner leider doch nicht hinbekommen. Was ist das doch für ein wunderschöner Tag. Es ist fast 19 Uhr und die Sonne steht immer noch hoch am Himmel. Ich habe schon auf dem Weg zur Herberge so viele schöne Ecken und alte Häuser gesehen, dass ich Euch mit Bildern zuschütten könnte. Die Herberge in der Langestraße, die parallel zum Obermarkt verläuft, ist sehr urig. Ein typisches altes Haus mit Gewölben und verwinkelten Treppen. Zwei beschriftete Zimmer­schlüssel lagen in einem Korb auf dem Flur. Mehr Gäste wird es heute wohl auch nicht geben.

Mein 20-Euro-Bett ist in einem gemütlichen Doppelzimmer mit Blick auf St. Peter und Paul. Anders als angekündigt, liegt da auch Bettzeug, so dass ich meinen Schlafsack nicht rausholen muss. Die Sanitäranlagen und die kleine Küche sind sehr ordentlich. Letztere hat auch einen Kühlschrank, so dass ich mein Starterpack „Ernährung“ kalt stellen konnte. Ich habe nur den Rucksack im Zimmer abgestellt und bin los, um noch die Sonne zu nutzen und vielleicht noch auf eine offene Kirche zu treffen, in der ich einen Pilgerstempel bekommen kann. Aber nach 18 Uhr ist das natürlich in unseren Gefilden aussichtslos. Also ist der erste Stempel im Pilgerpass wieder ein Kneipenstempel. Aber es ist der passendste, den man sich denken kann - der Stempel der Gaststätte „Via Regia“ in der Neißstraße, die über die Neiße-Brücke rüber nach Polen führt.

Drüben in Polen sitze ich jetzt in einem Biergarten hoch über der Neiße und genieße ein süffiges polnisches Schwarzbier. Gleich werde ich mir noch ein langes belegtes Brot holen, denn das sieht zu verlockend aus.

19.30 Uhr. Das warme 40-cm-Mega-Zapiekanka (Baguette) mit Käse, Champignons, Zwiebeln, Salami und ordentlich Knoblauchsoße war hervorragend. Und auch der zweite Becher des Schwarzbiers schmeckte nicht schlecht. Ein Hoch auf die Deutsch-Polnische Freundschaft!

Die Sonne steht immer noch über der Stadt und es macht Spaß, hier gegenüber der riesig erscheinenden St.-Peter-und-Paul-Kirche zu sitzen und die Leute auf der Neiße-Brücke zu beobachten, die ungehindert von Polen nach Deutschland bzw. in umgekehrter Richtung laufen. Wenn ich jetzt in einen der Liegestühle des Biergartens wechseln würde und mir die Sonne auf den Bauch scheinen ließe, müsste man mich wahrscheinlich zum Feierabend wecken. Ich will aber gern noch was von der Stadt sehen und werde mich deshalb jetzt losreißen.

22.30 Uhr. Nach einem ordentlichen Stadtbummel, bei dem gut 10 km zusammengekommen sind, war ich erst nach zehn wieder in der Herberge. Hier sitze ich in der Küche und widme mich einer von zuhause mitgebrachten Leberwurststulle und einem passenden Getränk. Es ist so spät geworden, weil ich in Apple‘s Kartenprogramm eine Straße namens „Via Regia“ entdeckt habe, die ich unbedingt noch besuchen wollte. Es ist die über den Straßen-Grenzübergang (Johannes-Paul-II-Brücke) führende Straße, die bei Google Maps, Komoot usw. „Straße am Stadtpark“ heißt. Und das steht da leider auch auf allen Straßen­schildern.

Damit der weite Weg dorthin nicht umsonst war, habe ich im Halbdunkeln wenigstens noch den Meridian-Stein gesucht und fotografiert. Der markiert den 15. Längengrad und damit die Linie, auf der exakt die Mitteleuropäische Zeit gilt. In allen Orten links und rechts von Görlitz gehen die Uhren vor oder nach. Ganz extrem ist das in Galicien, wohin der Pilgerweg von hier gen Westen letztlich führt. Da zeigt die Uhr das Gleiche an wie hier, obwohl es dort zwei Stunden früher sein müsste. Bei uns ist morgen um 4.48 Uhr Sonnenaufgang, bei denen um 6.56 Uhr!

Ich will mir zwar morgen nicht den Sonnenaufgang ansehen, aber trotzdem zeitig aufstehen, da ich eine lange Etappe vor mir habe. Deshalb will ich jetzt mal Schluss machen.

Via Regia - Tag 0