Unterwegs auf dem Ökumenischen Pilgerweg entlang der Via Regia
Rückreise ab Vacha

Tag 17 (Mittwoch, 21.6.2023) - Rückreise ab Vacha

6.30 Uhr. Ich sitze in Vacha am Omnibusbahnhof. Gleich wird der Bus kommen, der mich nach Eisenach bringt. Von dort geht es mit der Regionalbahn nach Leipzig, dann nach Dessau und weiter nach Berlin-Wannsee. Den Rest erledigt hoffentlich die S 7. Etwa halb drei müsste ich in Ahrensfelde sein. Ich bin mit dem Deutschland-Ticket unterwegs, da ist nur Regionalbahn erlaubt. Sonst hätte ich auch von Bad Hersfeld oder Eisenach mit dem ICE fahren können. (Der fast zeitgleich mit meinem Zug in Eisenach abfahrende ICE wäre schon 10.32 Uhr in Berlin …)

Heute geht eine sehr eindrucksvolle Pilgerreise oder besser Wanderung zu Ende, die sich als noch schöner erwiesen hat, als gedacht. Die Landschaft war nicht spektakulär, aber einfach schön anzusehen, vor allem in Thüringen die riesigen Felder, die alle bestens bestellt waren. Bis auf die letzten zwei Tage im Thüringer Wald gab es kaum nennenswerte Steigungen, wodurch die großen körperlichen Anstrengungen ausblieben und ich schneller vorangekommen bin, als gedacht. Am Anfang des Weges habe ich viele offene Kirchen vorgefunden und etwas von der Kultur der Sorben kennengelernt. Viele sehenswerte mittelalterliche Städte mit großer historischer Bedeutung haben Auge, Herz und Hirn erfreut. Mit Ausnahme von ein, zwei Tagen in Sachsen, wo es lange am Rand von Landstraßen entlang ging, führte der Weg überwiegend zwischen Feldern hindurch oder durch den Wald.

Die Ausschilderung war bis auf ein paar Aussetzer hervorragend. Um den Weg zu finden, hätte man keinen Reiseführer gebraucht, lediglich für die Herbergen. Die sind leider nicht auf der Webseite des Vereins „Ökumenischer Pilgerweg“ gelistet, sondern nur eine Ergänzungs­liste zur gedruckten Ausgabe des Pilgerführers, der neben den organisatorischen Hinweisen eine interessante Lektüre bot und deshalb nicht umsonst mitgeschleppt wurde.

Das Herbergsnetz erwies sich als gut und an einigen Orten hätte man unter Unterkünften verschiedenen Niveaus wählen können. Eine Reservierung über Tage im Voraus erwies sich als überflüssig. Man sollte aber schon vormittags bei der angepeilten Herberge anrufen, um zu prüfen, ob da jemand erreichbar ist. Mitunter sitzen die Ansprechpartner in Pfarrbüros und sind nur zu bestimmten Zeiten erreichbar. Mehrfach hat es geklappt, dass ich zurückgerufen wurde, wenn keiner ans Telefon ging. Am einfachsten war es für alle Beteiligten, wenn ein Herbergsteam die Pilgerbetreuung übernommen hat und jener, der gerade Dienst hat, das „Pilgertelefon“ und den Herbergsschlüssel mit sich führt.

Was die Wegeführung betrifft, war ich angetan, da man sich sehr bemüht hat, einen guten Kompromiss zwischen originaler Wegeführung der Via Regia und verkehrsarmen Wegen zu finden. Abgesehen von der landschaftlich schönen, aber sicher nicht historischen Vorlagen folgenden Wegeführung über die Hörselberge kurz vor Eisenach und im Wald vor Vacha gab es keine erkennbaren Umwege aus touristischen Gründen. Es war fast überall vorstellbar, dass auf den begangenen Wegen oder auf den dicht daneben verlaufenden Straßen einst Händler, Pilger und oft auch Soldaten gezogen sind. Ich glaube, man nennt sowas heutzutage „authentische Wegeführung“.

Die Versorgungsmöglichkeiten am Weg sind leider so schlecht wie überall auf dem Land. Da ist man durchaus mal einen ganzen Tag unterwegs, ohne auf einen Supermarkt oder eine offene Gaststätte zu treffen. Die Rettung liegt oft nur in den Tankstellen. Der Mangel an Gaststätten und die fehlende Lust, sich stundenlang allein in eine Kneipe zu setzen, spart natürlich ungemein, so dass ich mit überschaubaren Ausgaben über die Runden gekommen bin, obwohl die Übernachtungspreise meist 20 bis 50 % über den im Pilgerführer ange­gebenen lagen - zuletzt in Vacha zum Beispiel 15 statt 10 €.

Obwohl ich oft und gerne allein laufe, muss ich sagen, dass die fünf Tage, die ich zusammen mit Markus unterwegs war, die schönsten waren. Wir haben uns ganz gut aufeinander abgestimmt, so dass sich (zumindest aus meiner Sicht) keiner über- oder unterfordert gefühlt hat. Wir hatten gute Gespräche und haben uns besser kennengelernt. Und vor allem war ich abends und am Morgen nicht allein in der Herberge, sondern konnte mit jemand quatschten, kochen, essen, ein Bier trinken usw.

Denn, so gern wie ich tagsüber allein laufe, so gern treffe ich dann abends auf Mitpilger, mit denen man sich austauschen kann. Mit Ausnahme von Katrin und Inge sowie den beiden Pilgern bei der katholischen Sexualkundelehrerin habe ich nur zweimal andere Pilger in der Herberge vorgefunden: die Ostfriesin auf der Kirchenempore und den schwäbischen Lehrer gestern Abend. Die anderen Abende waren schon ziemlich einsam. Ich würde deshalb für die Via Regia (und wohl für alle wenig begangenen Wege in Ostdeutschland) durchaus empfehlen, sich zu zweit auf den Weg zu machen.

Eine Begegnung ist mir den ganzen restlichen Weg nicht mehr aus dem Kopf gegangen. In der Herberge kurz vor dem Kloster Marienstern, wo ich mit Markus im Vorgarten Rast gemacht habe, gesellte sich eine Frau, vermutlich Ende dreißig, zu uns, die ganz bereitwillig über ihre Gründe, diesen Weg zu gehen, berichtet hat. Ihre siebzehnjährige Tochter hat sich dem Alkohol und Drogen zugewandt und lässt sich nicht davon abbringen, wodurch ihr Verhältnis immer angespannter wurde. Das Jugendamt, das sie eingeschaltet hat, hat die Tochter zwar schon mehrfach in Wohngemeinschaften oder Notunterkünfte vermittelt, wo sie aber immer wieder rausfliegt, weil dort für die Zeit der Unterbringung der Verzicht auf Alkohol und Drogen Bedingung ist. Nun lebt sie auf der Straße. Ihre Mutter wurde von Selbst­vorwürfen so zerfressen, dass sie sich in psychiatrische Behandlung begeben musste. Da hat man sie langsam wieder aufgebaut und ihr vermittelt, dass Eltern nicht immer für alles verantwortlich sind, was ihre Kinder anstellen. Man hat ihr auch empfohlen, nun einfach mal nur an sich zu denken und sich zum Beispiel mal auf einen Pilgerweg zu begeben, um wieder Selbstvertrauen zu finden. Das hat sie gemacht und ist gleich bei dieser Herberge, wo sie so herzlich aufgenommen wurde, hängen geblieben und hat mindestens noch eine Übernachtung ran gehängt. Um sich den Tag über etwas nützlich zu machen, hat sie das Bügeln der Bettwäsche übernommen.

Wir waren sehr überrascht, wie offen die noch sehr jung erscheinende, sympathische Frau über ihre Probleme sprach und wie gut ihr die wenigen Tage auf dem Pilgerweg offenbar schon getan haben. Das Lächeln auf ihrem Gesicht vermittelte Hoffnung, dass sie wieder zu einem normalen Leben zurückfindet. Ich wünsche es ihr sehr.

Via Regia - Tag 17