Unterwegs auf dem Ökumenischen Pilgerweg entlang der Via Regia
Von Oberellen nach Vacha

Tag 16 (Dienstag, 20.6.2023) - Von Oberellen nach Vacha / 24,7 km

6.00 Uhr. Eigentlich wollte ich schon längst unterwegs sein, aber als ich vorhin um die Hausecke rum auf dem Klo war, begann es zu gießen. Nun ist der Regen zwar schon etwas schwächer geworden, aber immer noch so, dass ich den Regenponcho überziehen müsste. Da warte ich mal noch ein paar Minuten. Leider haben es zwischenzeitlich ein paar spitze Steine geschafft, durch die Sohle bis ins Schuhinnere vorzudringen und haben Löcher hinterlassen. Das ist zwar gut fürs Fußklima, aber bei den nassen Straßen wird es sicher feuchte Füße geben. Nun gut, heute ist der letzte Tag, da werde ich das auch überleben.

Ich habe auf der Campingliege zwischen Kneipenstühlen und Dart-Spiel ganz gut geschlafen und bin froh und dankbar, dass mir dieses Provisorium angeboten wurde. Allerdings fand ich die für eine Schlafstätte in der Raucherlounge ohne Dusche und Kochgelegenheit aufge­rufenen 20 € etwas überzogen.

Heute ist schon der letzte Tag meiner Tour und ich werde hoffentlich vor 18 Uhr in Vacha ankommen, damit ich da im Buchladen noch meinen Orden und den Schlüssel für mein letztes Quartier in Empfang nehmen kann.

7.00 Uhr. Ich bin nach ein paar Minuten Warten doch losgezogen, denn der Himmel sah nicht danach aus, als wolle der Regen bald aufhören. Im Gegenteil, vom ersten Hügel sieht es aus, als würden die Wolken bis zur Erde reichen. Vom Knie abwärts war natürlich binnen Minuten alles nass. Da wäre aber auch passiert, wenn ich noch eine Weile gewartet hätte, denn der Weg führte anfangs ein langes Stück durch hohes Gras. Das Gute an nassen Hosen ist, dass man nicht mehr merkt, wenn einem das nasse hohe Gras gegen die Beine schlägt. Jetzt mache ich in einer Schutzhütte eine kleine Pause, aber gleich geht es weiter. Wenn man hier lange in nassen Sachen sitzt, dann wird es ungemütlich.

8.00 Uhr. Jetzt hat es endlich aufgehört zu regnen und es besteht Hoffnung, dass die Sachen am Körper trocknen. Gerade bin ich durch Wünschensuhl gekommen. das klingt wie „Was wünschen Sie?“, aber hier gibt es weder einen Bäcker, noch einen Kaufmannsladen, von einer Kneipe (die ohnehin um diese Zeit zu wäre) ganz zu schweigen. Nun kommt hier bis kurz vor Vacha nur noch Wald.

12.00 Uhr. Ich mache gerade Frühstück mit einer Banane, die ich mir von einem Biokost-Lieferanten erbettelt habe, der wie ich hier Pause gemacht hat. Ich bin immer noch im Wald und es sind noch ca. 9 km bis Vacha. Das ist schaffbar, auch wenn ich hier ein bisschen Pause mache.

An einer großen Wegkreuzung, „Ruhebank“ genannt, steht eine Schutzhütte, die mich vor der aufkommenden Sonne bewahrt. Auf einer Seite des kleinen Platzes vor der Hütte ist eine Lücke zwischen den Bäumen. Da fällt der Blick ins freie Land auf eine riesige Kalihalde, die wie ein großer Tafelberg in der Landschaft steht.

Unterwegs habe ich einen Herrn getroffen, der mit dem Auto im Wald unterwegs war und die gerade tätigen Holzfäller suchte. Er erzählte, dass er im Osten lange Jahre bei der Forst war und dann nochmal -zig Jahre im Westen. Er hat über die Forstwirtschaftsmethoden geschimpft, die der Westen bei uns eingeführt hat. Er hat mir auch erklärt, warum so viele Fichten absterben und hat mir einige mit kahlen Spitzen gezeigt. Es sind hier nicht die Umwelteinflüsse, sondern eine kleine Raupe namens Lineados (habe ich bei Google nicht gefunden), welche die Fichtennadeln abfrisst. Wenn der Baum dann geschädigt ist, schlägt der Birkenkäfer zu.

Er hat mir auch viel über der Kalibergbau erzählt - sein Sohn und ein Enkel sind dort beschäftigt. Unter uns ist alles hohl. Da befinden sich etwa 400…500 Meter tief mindestens drei Bergwerke. Im Wald seien für Millionen Euro dicke Rohre verlegt worden, durch die Kalilauge wieder in den Berg geleitet wird. Und dann erzählte er noch von den -zig Tausend Tonnen mit Sonderabfällen, die im Westen in den aufgegebenen Stollen gelagert werden. Er meint, wenn das mal explodiert, wäre es schlimmer als eine Atombombe.

13.00 Uhr. Stefan hatte mir gerade per WhatsApp gewünscht, dass ich auf eine Waldfee treffe, die meine Wünsche erfüllt. Da kam sie auch schon, die Waldfee. Ich hatte mich gerade hingelegt, da schaute Steven mit einer Schrippe in der Hand in meine Schutzhütte und fragte, ob ich etwas essen wolle. Er ist mit dem Motorrad unterwegs und macht gerade Frühstückspause. Da habe ich mich nicht lange bitten lassen und mir ein Brötchen beidseits mit Scheibenkäse und Salami belegt. Grandios. Steven ist eigentlich Fleischer, hat aber zuletzt in einer Pressfabrik gearbeitet. Da ist er gerade rausgeflogen und weil er erst in ein paar Tagen seinen neuen Job anfängt, kurvt er mit dem Motorrad durch die Gegend - und spielt den rettenden Engel.

22.00 Uhr. Es ist längst zu spät, was in die Runde zu schicken, aber ich will trotzdem „zu Papier bringen“, was heute noch so geschah.

Nach dem Zusammentreffen mit Steven ging es weiter endlos lang durch den Wald. Witzig war, dass fast jede Wegkreuzung einen markanten Namen hat: Am Kreuz, Kaiserbuche, Liethen-Eiche, Am wilden Mann …

Ich habe auf dem restlichen Weg niemand mehr getroffen. Dabei habe ich immer Ausschau nach einer mir noch unbekannten Julia aus Zossen gehalten, die sich kurz vor mir in das Pilgerbuch eines Rastplatzes kurz hinter Wünschensuhl eingetragen hat. Da sie auch hier in der Herberge nicht ist, wird sie vielleicht im Eiltempo nach Vacha gelaufen und dann noch mit dem Zug nach Hause gefahren sein.

Ziemlich ausgetrocknet bin ich nach etwa 20 km ohne Ortschaft durch den Wald in Oberzella, einem Ortsteil von Vacha, angekommen. Theoretisch hätte es dort eine Gaststätte gegeben, aber die hatte heute Ruhetag. Ich habe mich also darauf beschränkt, bei jemand Wasser für meine Flasche zu betteln und bin dann weiter. Der Weg führt zusammen mit der Straße zur Werra-Brücke, die im rechten Winkel zur Straße steht und nach Vacha hineinführt. Geradeaus geht es an diesem Abzweig nach Philippsthal, das schon zum Kreis Hersfeld-Rotenburg (Hessen, also Westen) gehört, während Vacha zum Wartburgkreis (Thüringen, also Osten) gehört. Hier verlief die Grenze. Da mit normalem Menschenverstand nicht zu begreifen ist, wie man hier Menschen und Dörfer so rabiat voneinander trennen konnte, stehen überall Tafeln, die Grenzverlauf und -sicherung erklären und von Einzelschicksalen erzählen. So stehen entlang eines Gedenkweges zehn Tafeln an Stellen, wo Häuser oder ganze Höfe plattgemacht wurden, weil sie zu dicht an der Grenze standen.

Ein Haus konnte man aber nicht platt machen, da es halb im Osten und halb im Westen lag. Es wurde zwar von einer westdeutschen Firma genutzt, gehörte aber laut Viermächte­abkommen offiziell zum Osten, weil dort die Eingangstür lag. Die Firma hat dann aber in einer Silvesternacht diese Tür zugemauert und auf der anderen Seite einen Durchbruch geschaffen, womit das Haus fortan offiziell zum Westen gehörte. Der Herr, mit dem ich im Wald geplaudert hatte, wusste nun noch zu erzählen, dass die im Haus befindliche (West-) Druckerei in den Räumen jenseits der durchs Haus verlaufenden Grenze produziert hat und damit ihre Produkte als Ostimporte galten und steuerfrei waren.

Die lange, steinerne Brücke über die Werra, die heute Fußgängern und Radfahrern vorbe­halten ist, hat eine lange bewegte Geschichte hinter sich. Über sie und durch die Altstadt von Vacha verläuft die Via Regia, entlang der ich nun ab Görlitz 487 km (lt. Pilgerführer 460 km) auf dem Ökumenischen Pilgerweg zurückgelegt habe. Dieser endet je nach Pilgerführer auf der Werra-Brücke oder auf dem Marktplatz.

Gleich hinter der Brücke stößt man links auf die Burg Wendelstein und rechts auf die Johanneskirche. Dieser gegenüber ist die Kemenate, ein einst herrschaftliches Haus, in dem sich jetzt die Stadtbibliothek und die Pilgerherberge befinden. Ich bin aber weiter bis zur ersten Restauration, um dort was zu essen und zu trinken, schließlich war es nach vier und außer einer Schrippe und Banane hatte ich nichts im Magen. Beim ersten Restaurant handelte es sich um einen großen Dönerladen - der bestellte Döner war aber nicht so doll, denn dem Fleisch merkte man an, dass es ewig vor der Flamme gedreht hat, weil keine Kundschaft da war. Ich sollte meinem Grundsatz treu bleiben, nur dort Döner zu essen, wo eine Schlange steht.

Danach bin ich zur Rhönbuchhandlung, um mir den letzten Stempel und meinen Orden zu holen. In einem winzigen Lädchen mit ein paar Büchern ohne Kundschaft habe ich beides bekommen, aber nicht den Schlüssel. Dazu hat der Herr eine Dame angerufen, die mich an der Herberge empfangen wird. Kaum raus aus dem Laden lief ich der auch schon in die Arme. Die gute Frau war ein paar Minuten vorher schon mal an der Herberge, um einen anderen Herbergsgast einzulassen. Da hätten wir uns gut treffen können.

Bei dem anderen Gast handelt es sich um Karl (Baujahr 1950) aus Biberach in Baden Württemberg, der mit dem Fahrrad von Lübeck nach Fulda unterwegs ist und nun nur noch eine Etappe vor sich hat. Seine Frau hat es nicht so mit dem Radfahren, die pilgert statt dessen lieber zu Fuß und ist schon über mehrere Jahre verteilt, den Jakobsweg von Genf über Le Puy und St. Jean-Pied-de-Port nach Santiago gelaufen.

Karl ist pensionierter (Berufsschule-) Lehrer für BWL und konnte viel über seine jährlichen Klassenfahrten mit 25 Fünfzehnjährigen in die DDR erzählen. Er erwies sich als bestens informiert, hat sich aber trotzdem gern noch einige Sachverhalte erklären lassen.

Ein weiteres Gesprächsthema war das Miteinander der verschiedenen Konfessionen hier und in seiner Heimat. Da sind zwar auch die Katholiken in der Minderheit, aber bis vor ein paar Jahren gab es stets eine paritätische Zusammensetzung der Parlamente und bestimmte Ämter wie das des Bürgermeisters wurden mal mit einem Katholiken und mal mit einem Protestanten besetzt. Simultankirchen, die von beiden Konfessionen genutzt werden, sind dort üblich. Bei deren Nutzung ergeben sich aber mitunter Kuriositäten, zum Beispiel nebeneinander hängende katholische und evangelische Stromzähler …

Via Regia - Tag 16