Unterwegs auf dem Ökumenischen Pilgerweg entlang der Via Regia
Von Marienstern nach Königsbrück

Tag 4 (Donnerstag, 8.6.2023) - Von Marienstern nach Königsbrück / 29 km

12.00 Uhr. Ich sitze im Biergarten der Hutberggaststätte auf dem Hutberg bei Kamenz. Markus will in Kamenz ganz spontan einen ehemaligen Kollegen besuchen. Da habe ich angeboten, schon mal vorzulaufen und irgendwo am Wegesrand ein Schläfchen zu halten, was natürlich am besten funktioniert, wenn man vorher eingekehrt ist. Eine geöffnete Ausflugsgaststätte wie diese ist eine Rarität und solches Engagement sollte man unbedingt unterstützen. Ich überlege deshalb, ob ich mir noch mal einschenken lasse und eine Soljanka nehme, um das Unternehmen zu stützen.

Heute früh hat mich um 4 Uhr die nahe Glocke des Kloster-Kirchturms geweckt - bei offenem Fenster unüberhörbar. Aber auch bei geschlossenem Fenster habe ich alle nachfolgenden Viertelstunden-Schläge im Halbschlaf mitbekommen. Um halb sechs bin ich raus, genauso Markus, der wohl auch schon eine Weile wach lag. Der hat sich anschließend wieder als verkappter Gastwirt gezeigt und das Frühstück bereitet, so dass ich mich nach dem Rasieren (!) an den gedeckten Frühstückstisch mit Kaffee, Ei und Brötchen setzen konnte. Um sieben sind wir beide los und haben den Damen im Nachbarzimmer, die gerade aus den Betten gekrochen kamen, unsere Frühstücksreste zurückgelassen.

Kurz nach acht waren wir in Nebelschütz, wo wie im Kloster zu 9 Uhr Gottesdienst und Prozession angesagt waren. Wir wollten aber nicht das komplette Feiertagsprogramm mitnehmen, sondern haben uns mit einem Blick in die mit Birken und Fahnen reich ge­schmückte Kirche begnügt. Vor der Kirche haben sich die in sehr schöner sorbischer Tracht gekleideten Mädchen versammelt. Auch von den Frauen waren einige in Trachten unterwegs und alle haben sich bereitwillig fotografieren lassen und dabei ihr schönstes Lächeln aufgesetzt. Im Ort war die ganze für die Prozession vorgesehene Strecke mit großen Birken­zweigen auf beiden Seiten geschmückt.

Vorwiegend über die Felder ging es dann nach Kamenz, was wohl noch katholisch, aber nicht mehr so richtig sorbisch ist, weshalb wir hier auf keine Prozession gestoßen sind. In Kamenz sind wir über den Wochenmarkt vor dem Rathaus geschlendert und haben uns dann die große, sehr sehenswerte (evangelische) St. Marienkirche angeschaut, in der man u.a. die Grabsteine von Lessings Eltern und Großeltern findet. Sein Vater war 50 Jahre Prediger an St. Marien, sein Großvater war Bürgermeister von Kamenz. Da Gotthold Ephraim Lessing hier geboren wurde, nennt sich Kamenz „Lessingstadt“.

21.30 Uhr. War das ein schöner Tag! Es hat zwar mal kurz geregnet, aber danach gab’s schöne frische Luft und die Temperatur war wesentlich erträglicher. Den Regen, der eigentlich ein Gewitter werden sollte, haben wir kommen gesehen und in einer gemütlichen Schutzhütte im Wald vorbeiziehen lassen. Von dort war es nicht mehr weit bis Schwosdorf, das mit einer alten Postsäule aufwarten kann. Schließlich ist die Via Regia hier zugleich die „Alte Poststraße“. Dann ging es wieder lange durch dichten Wald nach Reichenau, das zwar eine Bushaltestelle „Gasthof“ zu bieten hatte, aber keine Gaststätte. Von hier waren es noch gut fünf Kilometer bis zu unserem Tagesziel Königsbrück und eine Pause durchaus angemessen.

Also haben wir uns auf einer Bank am Wegesrand niedergelassen und getrauert, dass wir uns in Kamenz nichts zu Trinken besorgt haben. Da kam mir die Idee, doch einfach ganz scheinheilig einen Einheimischen zu fragen, wo man denn im Ort eine Flasche Bier bekommen könnten. Gleich der erste Versuch war ein Volltreffer: Axel hat ohne lange zu überlegen gesagt „bei mir“. Er hat uns den Weg zu seinem Garten gezeigt. Wir sollten schon mal vorgehen, er muss nur noch schnell zur Oma, was holen. Ein paar Minuten später kam er dann, platzierte uns in eine Sitzecke hinterm Haus und stellte uns vor die Wahl, ob wir Freiberger, Landskron oder Radeberger haben wollen. Für unsere Entscheidung „Landskron“ sind wir sehr gelobt worden und Sekunden später stand er mit drei Flaschen dieses Getränks wieder vor uns. Wir haben noch eine Weile nett miteinander geplaudert und er hat erzählt, dass doch recht viele Pilger hier vorbeikommen und er immer mal mit welchen ins Gespräch kommt. Mal kam ein Ehepaar, wo sie kaum noch krauchen konnte und er im wahrsten Sinne des Wortes die „treibende Kraft“ war. Ein Arzt hat dann nach Beschau der zerschundenen Füße ein Weitergehen untersagt. Es hat Spaß gemacht, mit Axel (Mitte 50) zu quatschten. Er wollte uns noch mit einer zweiten Runde beglücken, aber es war schon bald sechs und wir mussten weiter.

Axel hat uns noch die Empfehlung gegeben, an der nächsten Gabelung nicht den nach rechts ausgeschilderten Weg zu nehmen, sondern uns links zu halten und den Weg runter zur Pulsnitz zu gehen. Das war ein guter Tipp, denn es war ein sehr schönes Laufen entlang der Pulsnitz mit ihrem glasklaren Wasser und urwaldartigen Ufern. Allerdings war der Weg durch die vielen Windungen viel weiter als der ausgeschilderte und führte zudem zum „falschen“ Ende der Stadt. Da es nun schon ziemlich spät war, haben wir uns auf der Höhe einer alten Eisenbahnbrücke getrennt. Markus ist weiter geradeaus zu einem Lidl, um noch was fürs Abendbrot einzukaufen und ich bin abgebogen und direkt zum Armenhaus. Dort angekommen habe ich die Wirtsleute angerufen - keiner ging ran. Dann bin ich zu deren nahe gelegenen Haus und habe geklingelt - keiner machte auf. Schließlich habe ich die an einem benachbarten Betrieb angeschlagene Nummer angerufen und den Tipp bekommen, doch mal in den Garten hinterm Haus zu schauen, da die Leute bestimmt dort seien. Das hatte ich unterlassen, da am Tor „Achtung, freilaufender Hund“ stand. In dem Moment kam aber auch schon Frau Lindner ums Haus, sagte mir, dass wir schon lange erwartet würden und dass Werner (ihr Mann) gleich mit dem Schlüssel und Wasser käme. Ich solle auf der Bank vor dem Armenhaus warten.

Ziemlich zeitgleich kamen Markus mit einem großen Einkaufsbeutel und Werner auf dem Fahrrad mit einer 20-Liter-Kanne warmen Wassers am Lenker. Er hat uns aufgeschlossen und jeden einzeln per Händedruck und mit den Worten „Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein“ ins Haus geführt. Dort hat er uns alles gezeigt bzw. erklärt und darauf hingewiesen, dass es sich zwar um ein Museum handelt, aber dass hier alles berührt werden darf und sogar benutzt werden soll. Die Einrichtung ist wirklich urig: drei Bänke um einen Tisch, ein Küchenspind und ein Kamin. Im Flur ein Backofen, Kanne und Schüssel zum Waschen und die Treppe nach oben. Oben dann ein Doppel- und ein Einzelbett mit Stroh unterm Laken und Bettzeug. Das Plumpsklo ist draußen um die Ecke. Strom gibt es nicht, aber Kerzenlicht. Wirklich urig und gemütlich. Ob man schlafen kann, wird sich zeigen.

Werner, der eindringlich darauf verwiesen hat, dass im Haus nur geduzt wird, ist dann wieder los, hat aber angekündigt, dass er in einer halben Stunde wiederkommt, um uns etwas über die Geschichte des Hauses zu erzählen.

Kaum waren wir mit dem Abendbrot fertig, kam Werner wieder mit dem Fahrrad, setzte sich, stellte drei Flaschen Bier auf den Tisch und begann zu erzählen. Das Armenhaus wurde 1826 für die Ärmsten im ohnehin bettelarmen Dorf gebaut, in diesem Fall für eine obdachlose Frau. Er sieht es als ein Zeichen christlicher Nächstenliebe, dass die armen Dorfbewohner zusammengelegt haben und gemeinsam tätig waren, um für die Ärmsten unter ihnen ein Haus zu bauen, das komfortabler war, als ihre eigenen Häuser.

Später, als Dank Bismarcks Reformen das Armenwesen staatlich geregelt wurde, stand das Haus leer und wurde um 1900 zu einem Spritzenhaus umgebaut. Als dann auch die Feuerspritze nicht mehr gebraucht wurde, verfiel das Haus. Um das Jahr 2000 haben sich dann Bürger zusammengetan und das Haus zunächst gerettet und später wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt. Eine vorbeiziehende Pilgerin, die sich für das Wieder­aufleben des Pilgerwesens an der Via Regia einsetzt, hat die Leute dann auf die Idee gebracht, aus dem Haus eine Pilgerherberge zu machen, praktisch ein lebendiges Museum. Jetzt sind alle froh, dass sie diesem Vorschlag gefolgt sind.

Werner hat uns dann noch unsere Fragen zum Sorbentum und zum Katholizismus in dieser Region erklärt. Zum Beispiel, dass nach der Reformation zwar Sachsen evangelisch wurde, dass dies aber nicht die Besitzungen von St. Marienstern und drei anderen Klöstern in der Oberlausitz betraf. Die blieben katholisch. Diese Gegend war zugleich das Hauptsiedlungs­gebiet der Sorben. Es ist also eher Zufall, dass die hier lebenden Sorben katholisch sind und dass man bis kurz vor Kamenz immer wieder auf Sorbisch beschriftete Kreuze am Wegesrand trifft. In der damals noch zu Sachsen gehörenden Niederlausitz gab es keine großen Klosterbesitzungen. Da wurden alle Dörfer und damit auch die dort lebenden Sorben evangelisch. Da haben wir auf die Schnelle viel gelernt.

Wie nicht zu überhören ist, ist Markus inzwischen oben auf der Strohschütte eingeschlafen. Da werde ich mich mal auch zu Bett begeben. Ich hoffe, dass meins lang genug ist, denn Werner hat bei der Einweisung darauf hingewiesen, dass es für die seinerzeitige Durchschnittsgröße bemessen wurde.

Via Regia - Tag 4