Unterwegs auf dem Ökumenischen Pilgerweg entlang der Via Regia
Von Leipzig nach Merseburg

Tag 9 (Dientag, 13.6.2023) - Von Leipzig nach Merseburg / 31,8 km

9.30 Uhr. Gerade habe ich die A 9 unterquert, auf der fleißig gebaut wird. Ich bin jetzt im Saalekreis, also in Sachsen-Anhalt und nicht mehr in Sachsen. Mein heutiges Ziel ist Merse­burg. Ich habe gerade im Büro der Neumarktkirche St. Thomae angefragt, ob noch ein Bett frei ist. Ja - bis jetzt ist erst eine Schlafstelle vergeben. Wenn ich es bis 17 Uhr schaffe, kann ich mir den Schlüssel im Pfarrbüro abholen, andernfalls müsste ich den Pfarrer anrufen und um den Schlüssel bitten. Seine Nummer hat mir die freundliche Dame am Telefon gegeben.

Wenn ich den Mittagsschlaf ausfallen lasse, sollte 17 Uhr zu schaffen sein. Die Hälfte des Weges habe ich ja schon hinter mir. Ich bin heute um Dreiviertel fünf aufgewacht und war bereits kurz vor halb sechs nach einem kleinen Frühstück (gestern Abend gekaufte Sand­wiches und Kaffee) in der Spur. Da zeigte das Thermometer frische 11 Grad an. Zunächst ging es im Rosental durch dichten Wald, dann für einige Kilometer auf dem Deich Leipzig - Schkeuditz entlang der Neuen Luppe. Erst kurz von Kleinliebenau führte der Weg durch das „Domholz“ weg vom Deich. Zwischen Kleinliebenau und der Autobahn stand dann das „Herzlich Willkommen im Saalekreis“ an der Straße.

12.00 Uhr. Mein Routenplaner sagt, dass es jetzt nur noch 10 km bis Merseburg sind. Da kann ich mir eine Pause auf einem Rastplatz im Schatten mächtiger Linden am Dorfteich von Zweimen, einem Ortsteil von Leuna, leisten. Hier schwimmen prächtige Seerosen auf dem Wasser - in einer Ecke rote, ansonsten weiße Seerosen, die jetzt in der Mittagszeit voll geöffnet sind.

Ich habe einige Zeit in der Dorfkirche von Horburg zugebracht, die demnächst innen neu gestaltet wird. Simulationen und Texte zeigen an, was da gemacht werden soll. Unter anderem wird die Anzahl der Sitzreihen verringert und unter der Empore ein WC und eine Teeküche eingebaut. Der Taufstein wird aus dem Altarraum in den hinteren Teil der Kirche versetzt und im gewölbeartigen Untergeschoss des Turms wird eine Winterkirche einge­richtet. Außerdem werden die neuzeitlichen, kitschigen Bemalungen an Decke und Wänden entfernt. Und es werden die wenig kunstvollen Bemalungen der Empore überpinselt.

Außer für diese Umgestaltung und die schon eingesetzten, neuen Bleiglasfenster wird für die Restaurierung der lebensgroßen „Weinenden Madonna“ gesammelt, die auf einem Sockel an der Seitenwand steht. Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert und war viele Jahre ein Wall­fahrtsziel, da einmal im Jahr Flüssigkeit aus dem Sandstein trat, die man für Tränen hielt. Ein protestantischer Priester hat dann später die Madonna zerstört, um dem „Spuk“ ein Ende zu bereiten. Die Reste der Figur hat man jüngst bei Bauarbeiten eingemauert gefunden, geborgen und wieder zusammengesetzt. Jetzt soll die ziemlich demolierte Figur restauriert werden.

In Horburg biegt der Jakobsweg in die Burgauenstraße ab, an deren Ende sich eine diakonische Einrichtung namens „Samariterherberge“ befindet, die behinderten Menschen Wohnung, Arbeit und Pflege bietet. Ich habe dort jemand, der beim Rasenmähen war, gefragt, ob es auf dem Gelände auch einen Imbiss gibt. Da hat er mich zum fast letzten Haus geführt, wo es eine Mitarbeiterkantine gibt, in der sich Pilger zu gleichen Konditionen wie die Mitarbeiter stärken können. Da habe ich ein leckeres, überbackenes Würzfleisch, einen Gurkensalat und einen großen Kaffee für zusammen 3,50 € bekommen. …

So gut wie ich in der Morgenfrische vorangekommen bin, so beschwerlich war es am Nachmittag, als die Sonne so richtig zum Einsatz kam. Um halb vier war ich dann endlich in Merseburg und bin am Ortseingang gleich in den Edeka, um was für Abendbrot und Früh­stück zu holen und auch gleich Wasser für den morgigen Weg. Dann habe ich schon mal in mein nächtliches Quartier geschaut, die Kirche „St. Thomas von Canterbury“ auf der Neumärkischen Seite von Merseburg, also noch vor der Saale. Die Kirche war offen und ein großes Schild mit der Jakobsmuschel lud zum Reingehen ein. Drinnen ist man erstmal erstaunt, weil die Kirche bis auf einen ungeschmückten Altartisch völlig leer ist. Der Kirchenraum ist trotzdem oder gerade deswegen sehr eindrucksvoll. Auf der Stirnseite ist unter drei Fenstern im Giebel eine Empore. Und auf dieser, vielleicht 10x6 Meter großen Empore befindet sich die Pilgerherberge: 7 Feldbetten, ein ausziehbarer Tisch, 7 Stühle und ein Regal mit Küchenutensilien. Die Toiletten ein paar Stufen tiefer im Treppenhaus. Wie mir schon am Telefon gesagt wurde, war ein Platz bereits belegt - von Anke aus Friesland.

Ich habe nur meinen Rucksack abgestellt und bin dann über die Saale und die Treppe hoch zum Gemeindebüro auf dem Domberg, um mir dort meinen eigenen Schlüssel zu holen. Wenn ich schon mal da oben bin, habe ich auch gleich den Dom besichtigt, zumal dort der Eintritt für Pilger frei ist (sonst 9,50 €, allerdings mit Audio Guide). Im Dom haben mich die prächtigen Epitaphe und die grandiose Orgel beeindruckt. Sehenswert ist auch der Kreuzgang neben der Kirche. Die Schatzkammer hat mich hingegen nicht so begeistert, vielleicht auch nur, weil ich mir nicht genug Zeit dafür genommen habe. Ich wollte endlich ins Quartier und die Wanderschuhe loswerden. Deshalb bin ich auch nicht wie Anke, die plötzlich im Dom auftauchte, weiter durch die Stadt gezogen.

Wieder auf der Kirchenempore angekommen, habe ich mir eine Brühe gemacht - eine Bio-Variante, die da rum stand und leider auch sehr nach Bio geschmeckt hat. Aber außer einem Wasserkocher, der nahe einer Steckdose auf der Erde stand, gab es hier keine Kochge­legenheit. Meine schöne Tütensuppe, die ich schon seit Tagen mit mir rumschleppe, konnte damit wieder nicht zum Einsatz kommen. Ärgerlicher war aber, dass es hier keine Duschen gab. Die sind aber wohl auch auf Kirchenemporen selten. Toiletten gab es natürlich, je eine für Männlein und Weiblein. Darin jeweils ein kleines Waschbecken, in dem nicht mehr als die Hände unter den Hahn passten. Die abendliche Körperpflege fiel entsprechend dürftig aus.

Nach Auswahl eines geeignet erscheinenden Feldbettes und Platzierung des Rucksack­inhalts auf ein paar Stühlen habe ich mich mit Blick ins Kirchenschiff an den Tisch gesetzt und mich der ausliegenden Literatur gewidmet. Darunter war ein Quiz zum Jakobsweg, der ziemlich schwierig war, bei dem aber auf den Rückseiten die richtigen Antworten nicht nur genannt, sondern auch ausführlich erklärt wurden.

Gegen sieben kam dann Anke, die in der Stadt noch einen Döner gegessen hat, und setzte sich dazu. Nach einer schweren Krankheit ist sie beim Sprechen und Bewegen beeinträchtigt und deshalb auch berentet. Vor zehn Jahren hat die sich erstmals auf einen Jakobsweg begeben, den Camino Francés. Da hat sie die Pilgersucht ergriffen. Es folgten der Norte, der Primitivo, ein verlängerter Ingles, drei Portugues-Varianten und als Krönung die Via de la Plata - insgesamt ist sie acht Mal nach Santiago gelaufen. Da habe ich noch Nachhole­bedarf. Und das war noch längst nicht alles: unter anderem noch Olafsweg, Via Scandinavia, und was mich besonders interessiert hat, der Jakobsweg von Le Puy quer durch Frankreich, der mich sehr reizt, den ich mich aber wegen fehlender Sprachkenntnisse bisher nicht getraut habe zu gehen. Sie hat mit Mut gemacht und gestanden, dass sie außer „Je ne parle vouz français“ auch nur Bitte, Danke, Guten Tag und Auf Wiedersehen sagen kann.

Spannend war auch ihre Schilderung der Pyrenäen-Überquerung auf dem von Toulouse kommenden Jakobsweg. Über den Somport-Pass hat sie drei Tage gebraucht … Beim Erzählen verging die Zeit wie im Fluge und es war halb elf, als wir das Licht ausgemacht haben.

Via Regia - Tag 9