Unterwegs auf dem Ökumenischen Pilgerweg entlang der Via Regia
Von Rudersdorf nach Wallichen

Tag 12 (Freitag, 16.6.2023) - Von Rudersdorf nach Wallichen / 30,3 km

11.00 Uhr. Mein Regenponcho hat gerade wieder seine Zauberwirkung gezeigt. Als ich in Buttelstedt aus dem Supermarkt kam, regnete es. Da ich meinen Anorak tief im Rucksack versteckt habe und nun noch obenauf die gerade gekauften Lebensmittel waren, habe ich den leicht greifbaren Regenponcho übergezogen und schon an der nächsten Ecke hörte es auf zu regnen.

Unter dem Vordach des Supermarktes bin ich auf eine Frau mit Rucksack und Poncho gestoßen, die gestand, auch Pilgerin zu sein. Sie will heute bis Ollendorf, das ist etwa 14 km vor Erfurt. Da will ich eigentlich auch hin, aber da ich in Erwägung gezogen hatte, bis Erfurt durchzulaufen, habe ich da noch kein Bett gebucht. Nun habe ich das nachholen wollen, aber die Dame, die das neueingerichtete Pilgerzimmer im Dorfgemeinschaftshaus betreut, sagte mir, dass beide Betten (eigentlich sollten es drei sein) belegt sind. Schade.

Da habe ich schnell in Wallichen angerufen, das liegt etwas näher dran an Erfurt, aber an einer Wegvariante, die über Buchenwald führt. Es gibt jedoch mehrere Möglichkeiten, auf diesen alternativen Weg zu wechseln. In der „Verbundherberge“ (ich weiß nicht, was das ist) Wallichen „Am Gänserasen 7“ ist noch was frei und die Dame am Telefon hat mir sogar Abendbrot angeboten. Sie habe den Kühlschrank voll und es gäbe Bratwurst. Ich habe unter der Bedingung zugesagt, dass sie auch eine Flasche Bier dazu hat. Hat sie!

Ich sitze jetzt kurz hinter Buttelstedt an einem Rastplatz und verzehre, was der Supermarkt zu bieten hatte. Darunter Heringsfilets, die mit Schrippe fast so gut schmecken wie mit Kartoffeln. Gerade kamen die beiden Damen vorbei, die in Ollendorf gebucht haben. Die vom Supermarkt und noch eine andere. Letztere hat angeboten, mir das Bett zu lassen und selbst mit der Isomatte auf dem Boden zu schlafen. Aber da ich mich nun schon woanders ange­kündigt habe und sie mir keine Bratwurst zum Abendbrot bieten konnte, habe ich abgewinkt. Das Angebot war aber wirklich nett.

Zum heutigen Vormittag sei noch nachzutragen, dass ich gut und vergleichsweise lange geschlafen habe - allerdings auf einer Matratze am Boden und nicht auf der auserkorenen Campingliege. Deren Auflage war so weich, dass ich gleich tief eingesunken bin und die Längsseiten der Auflage fast über mir zusammengeschlagen sind. Ich habe mir dann von den Sandwiches, die mir schon gestern Abend nicht geschmeckt haben, das zweite Paket hintergewürgt. Nun habe ich genug von diesen Dingern und muss mir was anderes fürs mobile Frühstück/Abendbrot suchen.

Um halb sieben bin ich heute gestartet. Der Weg führte wieder überwiegend durch Felder und berührte hübsche kleine Dörfer mit stattlichen Kirchen. Der Deutsch-Amerikaner Lyonel Feininger war viel in dieser Gegend unterwegs und hat einige der Kirchen in der für ihn typischen Art gezeichnet, zum Beispiel die in Oberreißen am Anfang meines heutigen Weges und die in Niederzimmern, kurz vor dem Schluss.

In Oberreißen steht auch eine aus Stahlplatten geschnittene Pilgergruppe in der Art, wie sie in Bernau hinter dem Mühlentor steht. Daran geheftet (Kunstschänderei!) war ein Hinweis, dass man im Haus gegenüber einen Pilgerstempel bekommt. Da es schon nach acht war, habe ich mich getraut zu klingeln. Kurz darauf kam ein Herr mit dem Stempel und hat sich gefreut, dass er einen Gesprächspartner hat. Er erzählte, wie er „zu Erichs Zeiten“ im 500er Trabi mit Frau und drei Kindern nach Berlin zum Einkaufen gefahren ist und wie hilfreich es war, immer genug Ersatzteile dabei zu haben.

In Schwerstedt bin ich übrigens nochmal auf die beiden Damen gestoßen, die mir das Quartier in Ollendorf streitig gemacht haben. Es stellte sich heraus, dass dies Mutter und Tochter waren: Gabi aus Bautzen und Maria aus Ruhland. Die laufen jedes Jahr ein Stück auf der Via Regia - in diesem Jahr von Freyburg nach Erfurt. Sie können immer nur kleine Etappen machen. Sie waren eine Nacht vor mir in der Herberge mit dem Bullerjan und haben die letzte Nacht von Schafen bewacht in einem als Pilgerherberge hergerichteten Zirkuswagen verbracht.

In Ottmannshausen bin ich an einem sehr schönen Freibad vorbeigekommen. Schon von weitem habe ich da sowas wie eine Gaststätte auf dem Gelände gesehen - geschlossen. Eine junge Frau vom Personal, die sich als „Fachangestellte für Bäderbetriebe“ vorstellte, erklärte mir, dass die Gaststätte nur auf ist, wenn auch ein paar Badegäste da sind. Und im Moment war da niemand. Auf meine Frage, ob denn auch alle Bierkästen weggeschlossen seien, sagte sie, dass sie mal schauen will, ob sich da was machen lässt. Kurz darauf kam sie mit einem zwar recht warmen, aber trotzdem Leben rettenden Märzen-Bier aus dem Geräteschuppen. Bademeister können auch an Land Leben retten! Und kaum war ich beim Abmarsch, kamen als Dank zehn Badegäste aus zwei Autos gestiegen.

Kurz bevor ich bei meinem Tagesziel ankam, zogen sich über mir dicke, dunkle Wolken zusammen und ich habe vorsorglich einen Schritt zugelegt. Kaum war ich in die Tür getreten, da ging draußen heftiger Regen und Hagel los - so stark, dass ich mich unter der über­dachten Terrasse gar nicht mit der Herbergsmutter unterhalten konnte. Dieses Wetter hätte ich nicht in freier Wildbahn erleben wollen. Da hätte auch der Poncho nicht viel abhalten können.

Ich bin hier in Wallichen von der „Herbergsmutter“ Katrin sehr herzlich empfangen worden. Sie wohnt mit ihrem Mann Mathias, der später dazu kam, und ihrer gebrechlichen Mutter in ihrem Elternhaus, das mal eine Kneipe war. Der Gastraum ist jetzt mit zwei sehr schicken Bädern versehen und mit sechs Feldbetten bestückt. Die große überdachte Terrasse, die mit Außenmauern versehen wurde, bildet nunmehr einen etwa 10x10 Meter großen Raum, der im Winter von den Dorfbewohnern gern für Weihnachts-, Silvester- und sonstige Feiern benutzt wird und im Sommer ebenfalls als Pilgerquartier dient. Ringsum hängen wie im Museum alle möglichen landwirtschaftlichen Geräte, an einer Wand steht ein großer, rustikaler Tisch mit zwei Bänken, gegenüber eine Sitzecke mit Korbstühlen und der Rest der Fläche ist mit dreizehn Feldbetten belegt, die alle bunt bezogen sind und auf Pilger warten. Heute war ich aber der einzige. Katrin meinte, im Juni sei immer wenig los, weil es da so warm ist, aber im April und Mai war die Herberge wohl gut besucht.

Ich hatte mich am Telefon nicht verhört: Es wurde abends tatsächlich gegrillt. Katrin hat nach meinem Anruf extra noch Wurst und Fleisch besorgt, obwohl der Kühlschrank wie gesagt voll war. Und wenn gegrillt wird, stellt sich gern auch zusätzlicher Besuch ein. In diesem Fall waren es Katrins Bruder und ihr Neffe, mit dem sie immer mal wandern ist. Zu größeren Touren hier oder anderswo auf dem Jakobsweg hat die Zeit noch nicht gereicht, da sie noch voll im Berufsleben steht. Sie verbringt aber trotzdem viel Zeit auf dem Jakobsweg, da sie es übernommen hat, auf einem Stück des Weges jedes Jahr die Ausschilderung zu kontrollieren und auszubessern, weshalb auch ein Stapel Plastikschilder mit der Muschel drauf in einer Ecke standen. Ich habe bei dieser Gelegenheit erfahren, dass Wallichen früher auf der Hauptroute des Jakobsweges lag, der dem historischen Verlauf der Via Regia entsprach und von Ollendorf über Wallichen in Richtung Erfurt verlief. Als vor etwa zehn Jahren die nahe ICE-Strecke gebaut wurde, war der Weg von Wallichen in Richtung Erfurt für eine Weile unterbrochen. Darum wurde der Weg ab Ollendorf geradeaus über eine vorhandene ICE-Querung und dann im Bogen nach Erfurt geführt. Als später hinter Wallichen eine Brücke über die Trasse gebaut wurde und der Weg nach Erfurt wieder frei wurde, ist die geänderte Wegeführung nicht wieder rückgängig gemacht worden. Nun liegt also Wallichen an der über Buchenwald führenden Jakobswegvariante und wird nicht mehr von so vielen Pilgern angelaufen. Das ist für beide Seiten schade: bei Katrin stehen Betten ungenutzt herum und die Pilger verpassen was.

Als Matthias von der Arbeit kam und der Regen nachgelassen hatte, wurde der Grill angeworfen. Thüringer Bratwürste sind schon was Leckeres. Matthias hat erzählt, dass er davon immer große Pakete mit nach Stuttgart schleppen musste, als er dort als Dachdecker auf Montage war. Und Katrins Bruder hat solche Pakete nach Berlin mitnehmen müssen, als er da zu tun hatte. Zur Wurst gab es die verschiedensten Salate und Matthias‘ Lieblingsbier, den „Lösch-Zwerg“ aus einer süddeutschen Privatbrauerei. Obwohl das Bier hier schwer zu bekommen ist, hat er gern und reichlich davon abgegeben. Das sind wirklich sehr liebe Leute, denen es Spaß macht, anderen eine Freude zu machen. Ganz herzlichen Dank dafür!

Via Regia - Tag 12